Sinnlichkeit ist immer gut

Die Neue Gesellschaft für Literatur feierte am Wochenende ihren dreißigsten Geburtstag. Gegründet mit dem Aufklärungspathos der 68er geht es ihr heute eher um Veranstaltungen mit Eventcharakter wie die Lesershow

Die Arbeit mit jungen Autorinnen und Autoren ist einer der wichtigsten Schwerpunkte

„Wenn einer in sein dreißigstes Jahr geht, wird man nicht aufhören, ihn jung zu nennen“, so beginnt Ingeborg Bachmann ihre Erzählung „Das dreißigste Jahr“. Man selber aber, so schreibt sie weiter, der oder die man auf die dreißig zugeht, man selber entdecke die wundersame „Fähigkeit, sich zu erinnern“. Man erinnere sich „mit einem schmerzhaften Zwang an alle seine Jahre, flächige und tiefe, und an alle Orte“.

Die Neue Gesellschaft für Literatur (NGL) hat am Sonntag ihren dreißigsten Geburtstag gefeiert. Wird man tatsächlich nicht aufhören, sie jung zu nennen? Und wie ist es um ihre Erinnerung bestellt, um die Erinnerung an die Jahre und die Orte? In seiner Festrede zitiert der Vorstandsvorsitzende der NGL, Henry Kersting, nicht Bachmanns dreißigstes Jahr, sondern Balzacs Frau von dreißig Jahren: „Ihre Seele ist noch schön durch die entschwindende Jugend, und ihre Leidenschaft erstarkt durch die Ahnung einer sie erschreckenden Zukunft“, wobei er auf die Zukunft der dreißigjährigen NGL in seiner Rede wenig eingeht. Stattdessen, tatsächlich, Erinnerungen an die entschwindende Jugend. 1973 hat der Verband deutscher Schriftsteller in Berlin zur Gründung der Neuen Gesellschaft für Literatur eingeladen: Eine Gruppe von Autoren um Ingeborg Drewitz wollte der „Literatur mit ihren vielen Möglichkeiten in Berlin-West eine breitere Basis als bisher“ schaffen; man versuchte, in verschiedenen Arbeitsgruppen auch die Menschen zu erreichen, die sich sonst nicht unbedingt mit Literatur beschäftigten.

Die jungen Jahre der NGL waren dann in vielerlei Hinsicht dem Geist der 68er verpflichtet. Dazu gehörte nicht nur der Anspruch, die innere Struktur der neuen Gesellschaft so demokratisch wie möglich zu gestalten, sondern auch deren dezentrale Arbeitsweise.

Die Neue Gesellschaft für Literatur hat keinen festen Veranstaltungsraum. „Literatur vor Ort“ ist das Motto, unter dem bis heute in allen Berliner Bezirken Lesungen, Diskussionen, Ausstellungen und Festivals veranstaltet werden – in kulturellen Einrichtungen ebenso wie in Cafés, Schulen, Bahnhöfen und öffentlichen Parks.

Abgesehen von der dezentralen Buntheit der Veranstaltungsorte ist jedoch wenig von dem übrig geblieben, was Henry Kersting in seiner Ansprache das „Aufklärungspathos der 68er Bewegung“ nennt und was er hinterher im Gespräch als „bierernst und unerotisch“ beschreibt: Das kulturpolitische Engagement der jungen Jahre in Ehren – aber heute wolle man doch mehr „Sinnlichkeit bei der Literatur“.

Diese Sinnlichkeit sieht er zum einen im nicht abreißenden Gespräch über literarische Qualität verwirklicht, wie es in den auch heute noch bestehenden Arbeitsgruppen der NGL geführt wird, zum anderen aber vor allem in den Veranstaltungen der verschiedenen Projektgruppen. Seit 1990 organisieren diese Gruppen innerhalb der Gesellschaft die jährlich stattfindenden Berliner Märchentage, seit 2001 gibt es das Berliner Comicfestival, seit dem Jahr 2000 möchte außerdem die jährlich stattfindende Lesershow in der Volksbühne Einblicke in die jeweils neuesten Tendenzen junger deutschsprachiger Literatur vermitteln.

Die von Henry Kersting so lebhaft geforderte „Sinnlichkeit“ ist allerdings sehr wahrscheinlich auch eine schiere Notwendigkeit in Zeiten, in denen offene Lesebühnen, Autorenworkshops oder Poetryslams die jungen Schriftsteller davon abhalten, sich in basisdemokratischen Arbeitsgruppen mit ihrer Literatur auseinanderzusetzen. Mareike Röper, eine der beiden Geschäftsführerinnen der NGL, sagt zwar, die Generationen mischten sich durchaus bei ihren etwa 400 Mitgliedern – sie gibt aber zu, dass es schwierig sei, junge Mitglieder für den Verein zu werben: Wo die älteren Mitglieder in den Arbeitsgruppen nicht nur den literarischen, sondern auch den allgemein menschlichen Austausch suchten, müsse man junge Leute eher durch „Veranstaltungen mit Eventcharakter“ heranholen – eben durch Lesershows und Comicfestivals zum Beispiel.

Wird man nicht aufhören, die NGL jung zu nennen, nach ihrem dreißigsten Geburtstag? In einer Stadt, in der es ein Literarisches Colloquium, eine literaturWERKstatt, ein Literaturhaus und ein Literaturforum gibt, wo situiert sich da ein Verein wie die Neue Gesellschaft für Literatur? Henry Kersting nennt die Arbeit mit jungen Autorinnen und Autoren als einen der wichtigsten Schwerpunkte für die nächste Zeit. Seit drei Jahren organisiert die NGL alljährlich eine Werkstatt für junge Autoren, bei der diese unter der Anleitung von Mentoren an längeren Texten arbeiten können und dann auch Gelegenheit bekommen, ihre Texte in Lesungen der Öffentlichkeit vorzustellen.

„Das ist die Zukunft“, sagt Henry Kersting. Wenn nun angesichts einer solchen Zukunft tatsächlich die Leidenschaft der dreißigjährigen Neuen Gesellschaft für Literatur erstarken sollte, wie es in dem Balzac-Zitat am Anfang geheißen hatte: Umso besser. ANNE KRAUME