Das neue Tempo Europas

Statt Mega-Stau heißt es an der Grenze zu Polen nun „freie Fahrt für freien Warenverkehr“. Diesen Veränderungen muss sich nun auch ein Festival auf dem „Truckstop“ bei Frankfurt (Oder) stellen

„Es bleibt offen, ob Frankfurt vom Ende des Staus profitiert oder abgehängt wird“„Der Gunter-Gabriel-Truck wird schon vorher in Frankfurt unterwegs sein“

VON UWE RADA

Es war der Megastau, den alle befürchtet hatten. Im Radio kamen die Schreckensmeldungen am 30. April im Stundentakt: „Achtung Autofahrer, A 11, Pomellen, Lkw-Stau in Richtung Polen auf einer Länge von 25 Kilometer. Die Wartezeiten betragen derzeit 40 Stunden.“ Am Vortag der EU-Erweiterung zeigte Europa noch einmal sein altes Gesicht. Die Lkw-Fahrer stehen vor ihren Trucks und fluchen, die Zöllner sitzen in ihren Kabinen und haben alle Zeit der Welt.

Nichts Neues auch in Frankfurt (Oder). Bis Briesen reichte die Lkw-Schlange vor dem Autobahnübergang Świecko. Der Truckstop, der riesige Lkw-Stauplatz vor dem Grenzübergang, war mit seinen 960 Plätzen voll wie immer. Weitere 1.000 Brummis stauten sich auf der Standspur der A 12.

Noch einmal war der Lkw-Platz am „Frankfurter Tor“ an diesem Tag das, was den Osteuropahistoriker Karl Schlögel so faszinierte: „Ein Ort, wo man das andere Europa, das unsichtbare Europa, mit bloßem Auge beobachten kann.“ Am Frankfurter Tor, schwärmte Schlögel, „kann man testen, wie es um den Puls und um das Tempo Europas steht – es ist ein wahrer Checkpoint Europas.“

Dieser Checkpoint soll nun tatsächlich besichtigt werden. Am Freitag, den 14. Mai, findet auf dem Truckstop eine europäische Erkundung der ganz besonderen Art statt. Auf einer Konferenz zum Thema „Europe in the making“ diskutieren Viadrina-Präsidentin Gesine Schwan, der ungarische Autor György Konrád, die polnische Ethnologin Małgorzata Irek und Karl Schlögel über das „unsichtbare Europa“. Sie alle eint die Überzeugung, dass Europa mehr ist als die Verträge in Brüssel oder das Händeschütteln der Politiker. Europa sei vielmehr das Europa der Helden des Alltags, und das könne man nirgendwo besser in Betracht nehmen als auf dem Truckstop, dieser „modernen Karanwanserei“ des Kontinents.

Auf einem weiteren Podiumsgespräch wird die neue Lage Frankfurts im Netz der europäischen Transitrouten und Korridore zur Sprache kommen. Heimlicher Höhepunkt von „Checkpoint Europa“ ist aber ein Konzert des litauischen Countrygeigers Algirdas Klova sowie des deutschen „Truckers der Nation“, Gunter Gabriel.

Mittlerweile freilich scheinen die Zukunftsahnungen des „unsichtbaren“ Europa wirklicher zu sein, als es den Organisatoren des Festivals lieb sein mag. Seit dem 1. Mai ist am Truckstop nämlich nichts mehr, wie es war. Der Megastau an der Grenze hat sich aufgelöst. Statt kilometerlanger Lkw-Schlangen heißt es nun: freie Fahrt für freie Waren.

Zwar fürchten Verkehrsexperten noch immer, dass der Wegfall der Zollschranken und die Ausweitung des europäischen Binnenmarkts auf die zehn neuen EU-Länder langfristig zu einem Anwachsen des Lkw-Verkehrs auf den europäischen Straßen führen wird. An den Grenzen jedoch geht seit dem Ende der Zollkontrollen alles ganz fix. Ein Blick in den Personalausweis oder den Reisepass, das war’s. Die Staus in Pomellen und in Frankfurt (Oder) vom 30. April haben sich bereits in den Morgenstunden des 1. Mai aufgelöst.

Wie es um den „Puls“ und das „Tempo“ Europas bestellt ist, kann man seitdem auch auf dem Truckstop beobachten. „Am Montagvormittag parkten nur noch sechs Lkw auf dem Stauplatz“, sagt Silvia Gosemann, die Geschäftsstellenleiterin der Firma Garonor. „Und die kamen auch nur, um in den Geschäften noch etwas einzukaufen.“

Auch das Verkehrsschild, das den Lkw-Fahrern bislang vorschrieb, rechts in den Stauhof einzubiegen, ist inzwischen überklebt. Der Truckstop, der vor zehn Jahren eingerichtet wurde, um den Lkw-Stau von den Autobahnen zu holen, scheint dieser Tage vom neuen Tempo Europas überholt worden zu sein.

Das ist nicht nur für Gosemann mit ihren 25 Angestellten ein Problem, sondern auch für die Organisatoren von „Checkpoint Europa“. „Der Titel unseres Festes“, sagt Karl Schlögel, „hat sich auf eine Weise bewahrheitet, die wir zwar nicht ausgeschlossen, mit der wir aber so doch nicht gerechnet haben.“ Frankfurt sei nicht länger der Ort der Megastaus. „Es ist Transitland. Es bleibt offen, ob Lkw-Fahrer in Zukunft ausgerechnet hier rasten werden oder der Platz wieder zur Wiese wird, ob Frankfurt von den Globalisierungsströmen profitiert oder abgehängt wird, ob die Stadt ein Stop an der Autobahn Berlin–Warschau wird oder ins Abseits gerät.“

Es sind diese neuen Fragen, die nun am 14. Mai diskutiert werden sollen. Große Veränderungen in Europa erfordern manchmal auch kurzfristige Änderungen in der Konferenzregie. Ob das Festival, wie ursprünglich vorgesehen, darüber hinaus eine Begegnung der Stadt Frankfurt mit dem „Europe on the move“ werden wird, ist offen. Eine Chance dafür gibt es allerdings noch, zeigt sich Silvia Gosemann optimistisch. „Wir haben in den letzten Wochen hunderte Handzettel an die Lkw-Fahrer verteilt, und viele von ihnen rufen hier an und fragen, wann es losgeht.“ Schließlich ist Gunter Gabriel unter den Truckern, wie es Gosemann sagt, „ein Zugpferd“.

Auch die Frankfurter, die bislang nicht vorhatten, sich auf den Truckstop an die Autobahn zu begeben, können dem Country-Sound wohl nicht entfliehen. Bereits am kommenden Mittwoch wird der bunte „Gunter Gabriel Truck“ des Gabriel-Fans Martin Hempel in der Oderstadt unterwegs sein. „Hempel wird dann sicher noch mal per CB-Funk mobil für unsere Veranstaltung machen“, sagt Silvia Gosemann. „Außerdem gibt es eine Shuttle-Verbindung vom Bahnhof zum Truckstop.“

Ob es allerdings für ihre Firma eine Zukunft gibt, weiß Gosemann nicht. „Den Mai warten wir noch ab. Wenn sich bis dahin nichts ändert, müssen wir anfangen, unsere Leute zu entlassen.“ Es klingt, als hätte Silvia Gosemann nur noch wenig Hoffnung auf eine Rückkehr des Staus. Europa hat sich beschleunigt, schneller sogar, als es seine Experten erwartet haben.