„Dafür lohnt sich zu leben“

Früher ein Tabu, heute in einigen Kreißsälen bereits Alltag: HIV-positive Schwangere.Bei fachgerechter Versorgung bekommen sie gesunde Babys – zumindest in der westlichen Welt

„Wenn die Schwangereerst in der 35. Wochebei uns landet,wird’s schwierig“

VON GISELA SONNENBURG

Wenn eine Frau schwanger wird und zum Arzt geht, so wird sie auf verschiedene Krankheiten untersucht. Auf die selten gewordene Syphilis zum Beispiel, auch auf Röteln – die Ergebnisse werden im Mutterschaftspass eingetragen. Aber ausgerechnet die HIV-Infektion gehört nicht zur Routinekontrolle. Dieser Test ist freiwillig, und es bleibt dem jeweiligen Frauenarzt überlassen, ob er der Schwangeren dazu rät oder nicht.

Dabei könne, so die Ärztin Annette Haberl von der Infektambulanz in Frankfurt am Main, theoretisch jede Frau, die auf natürliche Weise ein Kind empfangen hat, auch HIV-positiv sein. Befruchtung und Infektion finden unter derselben Bedingung statt: bei nicht kondomgeschütztem Geschlechtsverkehr.

Die meisten der etwa 8.000 HIV-positiven Frauen in Deutschland haben sich denn auch bei einem Sexualpartner angesteckt. Früher war das anders: Bis vor einigen Jahren galt hier zu Lande noch das Fixerbesteck als häufigste Infektionsquelle für Frauen. Aber die Zahl der Neuinfektionen bei den Heterosexuellen nimmt zu – somit auch bei den Frauen.

Immerhin: „Ein HIV-Positivbefund ist heute kein Grund mehr, eine Schwangerschaft abzubrechen“, sagt Professor Joachim Dudenhausen, Geburtsmediziner im Virchow-Campus der Berliner Charité. Er leitet eines der deutschen Zentren, in denen HIV-infizierte Schwangere behandelt und mittels Kaiserschnitt zwei bis drei Wochen vor dem errechneten Geburtstermin entbunden werden.

Rund 150 gesunde, HIV-negative Babys kamen so seit der Jahrtausendwende in Berlin zur Welt. Denn während man früher vermutete, die Embryonen würden über den Mutterkuchen infiziert, weiß man heute: Das höchste Risiko geht von den Zervixwehen aus, die den Muttermund eröffnen. Da sie oft schon vor der Geburt auftreten, kommen die Ärzte ihnen zuvor und holen das Kind durch den Bauchschnitt. Andrea Müller* hat das hinter sich. Die 38-jährige Verkäuferin ist seit neun Jahren HIV-positiv – und glückliche Mutter einer sieben Wochen alten Tochter. Sie meint sogar: „Ich fühlte mich wie eine ganz normale Schwangere.“ Infiziert hatte sie sich bei ihrem Expartner, aber ihre Tochter ist ein Wunschkind auch ihres neuen Gefährten: „Dafür lohnt es sich zu leben.“

Ihre ärztliche Versorgung verlief nach Plan: Während der Schwangerschaft bekam sie antiretrovirale Medikamente, die das Virus unter die Nachweisgrenze drückten. Nebenwirkungen wie Störungen des Nervensystems oder Magen-Darm-Beschwerden nahm sie in Kauf, ebenso das langfristige Risiko einer Diabeteserkrankung. Ihr Neugeborenes wurde zehn Tage lang viermal täglich im Virchow-Campus an den Tropf gehängt, vorbeugend. Ein dadurch drohender Mangel an roten Blutkörperchen trat nicht ein – und das Kind ist virenfrei.

Dass Andrea Müller wegen der Infektionsgefahr nicht stillen darf, empfindet sie als Entlastung: Bei den Kindern, die sie vor ihrer Infektion zur Welt brachte, hatte sie Probleme mit dem Milchfluss. Kompliziert ist für sie nur die Organisation des sozialen Umfelds: „Ich muss mich mit Leuten umgeben, die damit umgehen können.“ Kummer mit einer Nachbarin, die ihr höhnisch „Aidsi, Aidsi“ hinterherrief, ließ sie mit einem Umzug hinter sich. Nur ihre Krankenkasse wusste von nichts: „Was, Sie sind schwanger?“, fragte der Sachbearbeiter entsetzt.

Tatsächlich wird über das Thema nicht viel geredet. Auch die meisten HIV-Positiven weihen nur ihren engsten Kreis ein, befürchten Diskriminierung. Dabei kennen Viren keine sozialen Grenzen: „Wir haben hier die ganze Bandbreite der Gesellschaft als Patientinnen“, sagt die Ärztin Simone Casteleyn. Sie arbeitet seit 1999 in der Infektambulanz des Virchow-Campus, behandelte dort auch Andrea Müller. Jährlich kommen 30 bis 40 HIV-infizierte Schwangere zu ihr – Tendenz steigend.

„Je früher eine Frau kommt, desto besser auch für ihr Kind“, weiß Casteleyn: „Wenn eine Schwangere erst in der 35. Woche bei uns landet, wird’s schwierig.“ Die am meisten gefürchtete Komplikation ist der „Blasensprung“, also das Platzen der Fruchtblase. Blutungen sind sowieso ein Risiko – es ist desto höher, je mehr Viren die werdende Mutter im Blut hat. Weshalb die rechtzeitige Medikation mit virostatischen Mitteln wichtig ist: Sie greifen in den Stoffwechsel der Erreger ein und verhindern deren Ausbreitung.

Problematisch ist hingegen der Umgang mit solchen Arzneien – etwa Nevirapin – in den Entwicklungsländern. Wie auf der 11. Retroviren-Konferenz in San Francisco im Februar diskutiert wurde, erhalten HIV-positive Schwangere in Südafrika nur eine einmalige Dosis – mit dem fragwürdigen Erfolg, dass 39 Prozent der Behandelten dann ein resistentes Virus in sich tragen. Auch die Neugeborenen werden bei dieser Sparmethode nur einmal behandelt – acht Prozent sind deshalb schon kurz nach der Geburt HIV-positiv. Nach dem fünften Lebensmonat steigt die Infektionsrate bis auf 15 Prozent.

Dabei ist Afrika der Aidsbrennpunkt überhaupt. Von den weltweit auf 38 Millionen geschätzten HIV-Positiven leben 29 Millionen auf dem Schwarzen Kontinent. Allein in Kenia infizieren sich laut einer Statistik täglich rund 700 Menschen. Der Frauenanteil soll bei 51 Prozent liegen, bei den Infizierten unter 24 Jahren sogar bei zwei Dritteln. Und die WHO schätzt, dass mancherorts 40 Prozent der Schwangeren infiziert sind.

Als Hauptgrund gilt, neben Armut und Nichtwissen, die Abhängigkeit der Frauen von den Männern. Im März machte sich deshalb UNO-Generalsekretär Kofi Annan für die Frauen stark: Die Aidsbekämpfung erfordere „einen gesellschaftlichen Wandel, der Frauen und Mädchen mehr Macht“ verleihe. Die Frauenforschung der Fachhochschule Kiel brachte denn auch zutage: Aids ist in Afrika zwar die häufigste Todesursache. Dennoch werden Kondome nur selten benutzt. Bietet eine Ehefrau ihrem Mann ein Kondom an, wird sie ohne Umschweife der Untreue verdächtigt.

Mythen wie solche, es sei Männern schädlich, wenn sie zu wenig Sex hätten, oder sie könnten sich durch eine Entjungferung von Aids heilen, schüchtern die Frauen zusätzlich ein. Und vielerorts erhöht Arbeitsmigration die Promiskuität, während Aidsmedikamente nach wie vor zu teuer sind.

In Regionen, in denen Männer so genannten „trockenen Sex“ bevorzugen, reiben sich Frauen zudem vor dem Verkehr mit Putzmitteln die Vagina rissig und infektanfällig. Sie tun das nicht freiwillig. So wird eines von drei Mädchen unter 18 Jahren in Südafrika vergewaltigt, besagt die Studie.

Erfolge melden lediglich Entwicklungshelfer aus städtischen Gebieten in Uganda und Sambia, wo einer deutlichen Aufklärung das Wort gesprochen wird. Um 25 bis 50 Prozent gingen HIV-Neuinfektionen dort zurück. Aber bei einem von weiblichen Beschneidungen geprägten Sexualverhalten bleibt weiterhin viel zu tun.

Das weiß auch Simone Casteleyn vom Virchow-Campus. Etwa 35 Prozent ihrer Patientinnen sind afrikanische Migrantinnen. Die meisten fürchten sich, überhaupt mit Angehörigen über die Infektion zu sprechen. Viele befinden sich zudem in Abschiebungsverfahren – ihre Krankheit ist für den deutschen Staat kein Grund zum Bleiberecht.

Eine andere Problemgruppe: infizierte Heroinsüchtige. Bei ihnen hat Casteleyn Hoffnung: „Eine Schwangerschaft kann eine enorme Motivation sein, von der Droge loszukommen.“ Mit Methadon oder Subotex schaffen viele den Ausstieg – aber die Rückfallgefahr ist groß: „Manche Frauen brauchen unglaublich viel Hilfe.“ Dennoch warnt die Ärztin davor, Aids zum sozialen Stigma zu machen: „Man braucht nur einmal den falschen Partner erwischt zu haben.“

* Name geändert