Kreuzberg bleibt türkisch

Zu den „erlebnisorientierten Jugendlichen“ gehören immer mehr Migranten. Sie treibt nicht nur Spaß am Krawall, sondern auch Kiez-Patriotismus

AUS BERLIN CEM SEY

„Nee, wir werden nur am Mittag gegen die Nazis demonstrieren. Keiner hat Bock, Steine auf die Polizei zu schmeißen“, sagt Orhan*, ein junger Türke. „Zu schön, um wahr zu sein“, sagen Sozialarbeiter, die sich in unzähligen Jugendprojekten im Berliner Stadtteil Kreuzberg um den Nachwuchs der Migranten kümmern. Sie beobachten zurzeit genau das Gegenteil: wie sich zumeist türkischstämmige und nicht volljährige Jugendliche absprechen und auf die Straßenschlacht am 1. Mai vorbereiten.

Vor einem Jahr hatten genau diese Migrantenkinder die Krawalle in Kreuzberg angezettelt und damit die gewohnten gegenseitigen Schuldzuweisungen der Polizei und der Militanten aus der linksautonomen Szene überflüssig gemacht. Damals zogen einige hundert vorwiegend türkischstämmige Kinder und Jugendliche über das große Straßenfest auf der Kreuzberger Oranienstraße, mit dem der Bezirk eigentlich verhindern wollte, dass Raum und Anlass für Krawalle entsteht, und pöbelten friedlich feiernde Berliner an. Am Ende wurden die Polizeikolonnen, die sich gemäß der Deeskalationsstrategie lange zurückhielten, das Ziel der jungen Migranten. Innerhalb von Minuten verflogen alle Hoffnungen auf ein friedliches Ende des 1. Mai. Autos standen in Flammen. Steine flogen – fast ziellos. Dann kam die Polizei mit Tränengas und Knüppeln.

Auffallend war, welcher Symbole sich einige unter den Krawallmachern an diesem Tag bedienten. Sie streckten ihre Hände in die Luft und formten die Finger zu kleinen Wolfsköpfen, den symbolischen „Grauen Wölfen“, dem Wahrzeichen der gleichnamigen türkischen Ultra-Nationalisten. Auch der Kampfschrei der Jugendlichen – „Allah, Allah!“ – gehört zu deren Repertoire. In den 70er-Jahren haben sie in der Türkei mit diesem Ruf Andersdenkende überfallen – oft mit tödlichem Ausgang.

Das Phänomen aus dem vorigen Jahr bereitet auch nun wieder Sorgen. Die Polizei erwartet für den diesjährigen 1. Mai in Kreuzberg bis zu 1.000 „erlebnisorientierte Jugendliche“, viele davon mit Migrantenhintergrund (siehe Text unten). Sie werden zum Großteil für unpolitische Mitläufer gehalten. Fest steht jedoch, dass viele dieser jungen Migranten sich im Umfeld von Vereinen und Moscheen rund um die Kreuzberger Oranienstraße bewegen, die von türkischen Ultra-Nationalisten kontrolliert werden. Ein weiterer Anziehungspunkt sind neuerdings zudem einige Kampfsportschulen.

Und diese jungen Männer, so beobachten es die Sozialarbeiter im Kreuzberger Kiez, faszinieren zunehmend unzählige andere junge Migranten. Denn sie alle sind mit den jährlichen Kämpfen gegen die Polizei in diesem Stadtteil aufgewachsen, sie kennen es nicht anders. Steine zu werfen heißt Tradition zu bewahren.

Dabei spielt nicht nur die alljährliche Wiederholung der Straßenschlachten am Rande der Maifeier eine Rolle, sondern auch ein bestimmter Lokalpatriotismus unter den türkischen Jugendlichen, der seinen Ursprung in den Neunzigerjahren hat. Das Aufleben neonazistischer Gruppen und der Umgang der Politik mit den Anschlägen von Rostock, Hoyerswerda oder Mölln sind in Kreuzberg alles andere als vergessen. Als Reaktion darauf pflegen viele türkische Jugendliche ihren eigenen unterschwelligen Nationalismus. Für das Auftauchen nationalistischer Symbole vor einem Jahr machen manche von ihnen dennoch die kurdische PKK verantwortlich: „Sie waren es bestimmt. Sie wollten, dass es wieder den Türken in die Schuhe geschoben wird“, sagt beispielsweise Orhan.

Diese Selbstverständnis der jungen Türken äußert sich aber nicht nur am 1. Mai. Ahmet Olcay, der einen türkischen Jugendtreff in Kreuzberg betreut, sagt, die Kinder pflegten eine weitere anatolische Tradition. „So wie ihre Altersgenossen in türkischen Städten verteidigen sie ihr Revier gegen Fremde.“ Auch wenn sie sich noch nicht gegen die Deutschen stellten, begegneten die Sozialarbeiter oft Sprüchen wie „Wir müssen den Kurden zeigen, wer in diesem Kiez das Sagen hat“. Zudem verursache die wachsende Zahl arabischstämmiger Jugendlicher mittlerweile Konflikte in Kreuzberg.

Die Betreuer der jugendlichen Migranten berichten auch von einer offenen Begeisterung der türkischen Kinder für Religionskämpfer. „Islamist sein wird allmählich in“, sagt Ahmet Olcay. Die Kinder seien stolz darauf, gut organisiert zu sein. Der Streetworker gibt aber gleich Entwarnung: „Dennoch sind sie meilenweit entfernt von islamistischen Terroristen.“

Ältere nationalistische Türken weisen jede Schulzuweisung von sich: Man habe darauf keinen Einfluss, heißt es in den Vereinen der Nationalisten, die Jugend mache, was sie wolle. Doch die Kinder würden berichten, dass sie sich bei den Älteren Rat einholen, die seien ja erfahrener.

* alle Namen geändert