Notorisch g.r.o.ß.

Freakshow aus der schwarzen Mittelschicht: Victor D. LaValles durchgeknallter, unter Irving-Verdacht stehender Roman „Monster“

Anthony James ist jemand, „der Komplikationen nach einer guten Mahlzeit weniger komplizierend“ findet. Und da er dreihundertfünfzehn Pfund wiegt und von seinem Herrenausstatter mit Notorious B.I.G. angeredet wird, ahnt man bereits, dass es in diesem Leben, von dem Victor D. LaValles zweiter Roman, „Monster“, erzählt, einiges zu verarbeiten und auch zu verdrücken gibt (hier kann also wirklich mal von „Küchenpsychologie“ geredet werden).

Anthony ist gerade vom College geflogen, weil er statt seiner akademischen Karriere lieber dem nebenberuflichen Putzen von Wohnungen nachgegangen ist, bevorzugt nackt. Zurückgekehrt ins heimische Rosedale, einen Vorort von Queens, erwartet ihn ein Matriarchat aus Großmutter, Mutter und Schwester („drei Versionen der gleichen Frau, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, auf engstem Raum versammelt“), das genauso durchgeknallt ist wie der verlorene Sohn.

Die Großmutter, rüstige 93, konnte ihre ugandischen Stammeswurzeln gemeinsam mit dem starken Akzent nie ganz ablegen. Die Mutter wurde ziemlich bald vom Vater verlassen und hatte wohl schon vorher eine nymphomanische Ader: „Wenn sie ihre Anfälle bekam, mutierte die Frau zu einer offenen Muschi, aber dank Haldol war Mamas Geisteszustand nun schon seit Jahren stabil.“ Und seine Schwester Nabisase ist ein frühreifer Teenager, dessen Hobby die Teilnahme an Misswahlen ist.

Da verwundert es nicht, dass auch Anthony sein Scherfleinen beizutragen hat. Seine zweite große Leidenschaft neben dem Essen sind Horrorfilme – Anthony ist am Ende stolzer Autor von „Mord ist mein Geschäft“, einem Kompendium mit Inhaltsangaben sämtlicher gesehener Splatterfilme –, und mit sozialen Kontakten sieht es eher schlecht aus: „Ich hatte drei dürre Jahre hinter mir. Ich meine nicht nur, drei Jahre ohne Sex, ich meine sechsunddreißig Monate ohne einen freundschaftlichen Handschlag. Ich war darauf reduziert, mich in überfüllten Fahrstühlen an Frauen zu reiben; ich war der Mann, der sich über volle U-Bahn-Waggons ein bisschen zu sehr freut.“

Mit „Monster“ liefert der 1972 in New York geborene Victor D. LaValle eine Familien-Freakshow aus der schwarzen Mittelschicht. Fettleibigkeit ist hier längst as American as apple-pie, kein Abnehmen in Sicht, und die ganze Gesellschaft geht sowieso bald vor die Hunde, die bereits, vom Müll angelockt, durch das gerade noch bürgerliche Rosedale streifen. Zweifelhafter Höhepunkt des Romans ist eine Misswahl für Jungfrauen in dem kleinen Provinzkaff Lumpkin, Virginia. Die ganze Familie begleitet die 13-jährige Nabisase, um Anthonys längst mit Oralsex vertraute kleine Schwester dabei zu unterstützen, „Miss Unschuld“ zu werden.

Verlass ist in diesem Roman, der sich nicht allzu plot-driven eher von Anekdote zu Anekdote hangelt, eigentlich nur auf Anthonys lakonische Erzählperspektive. Das dicke narrative Ich – dessen Belesenheit man spürt, ohne dass es sie groß raushängen lassen muss – geht zu den Geschehnissen auch in Zeiten größter Dramatik gerne wohltuend auf Distanz. Nur gelegentlich geht einem die Dauerironie, in die der Held sich flüchtet, etwas auf die Nerven.

Am Ende muss man jedoch feststellen, dass dieses stellenweise sehr komische Buch, das Klaus Modick bis auf einen Aussetzer (wo er einen Schwarzen mit Südstaatenslang so reden lässt wie Hans Albers auf’m Hamburger Fischmarkt, „nich wahr, Mädjens“?) hervorragend übersetzt hat, entschieden zu lang ist – über Anthonys Familie hat man schließlich mehr erfahren, als man jemals wissen wollte. Außerdem hat Victor D. LaValle eindeutig zu viel John Irving gelesen. ANDREAS MERKEL

Victor D. LaValle: „Monster“. Aus dem Amerikanischen von Klaus Modick. C. H. Beck Verlag, München 2004, 335 Seiten, 19,90 Euro