„1. Mai ist wie Playstation 2“

Szenen wie im Bürgerkrieg: Der revolutionäre 1. Mai war auch in diesem Jahr nicht friedlich. Was geht in den Köpfen Jugendlicher vor, wollte vor allem der FU-Politologe Peter Grottian wissen. Die taz lud junge Migranten und den Professor ein. Ein Gespräch über Spaß, Rache und den Hass auf die Polizei

taz: Was ist schöner: Silvester oder der 1. Mai?

Mehmet: Ich habe noch nie bei einer 1.-Mai-Demo mitgemacht. Ich finde das einfach daneben. Die Demonstranten handeln zu extrem. Für die Polizei ist das ein sehr guter Tag, um zu trainieren.

Ali: Je mehr Bullen, desto mehr Hass gibt es. Am nächsten Tag in der Schule haben Freunde erzählt, wie sie Autos kaputtgemacht haben und so. Die sagen: wir haben den Bullen ein paar auf die Fresse gehauen, das macht echt Spaß.

Amir: Dieses Jahr war’s ein bisschen langweilig, nicht so viel Krawall wie sonst.

Warum geht ihr hin?

Amir: Nicht wegen der politischen Demo, sondern weil ich was gegen die Polizei habe. Am 1. Mai wird Rache genommen. Wenn die Polizei friedlicher wäre und sich an das Gesetz hielte, würde ich da nicht hingehen.

Rache, wofür?

Amir: Wenn ich zum Bespiel zum Ku’damm gehe, werde ich hundertpro angehalten und kontrolliert.

Einfach so, weil du aussiehst wie ein Ausländer, oder weil du etwas angestellt hast?

Amir: Ich werde einfach so kontrolliert und von mir werden Fotos gemacht. Früher war es noch schlimmer. Wir sind jeden Tag mitgenommen worden, wenn wir mit mehr als vier Leuten hier durch die Straßen gelaufen sind, und wurden bis auf die Unterhosen ausgezogen.

Die Polizeibeamten, auf die du am 1. Mai triffst, sind aber nicht die, die dich im Alltag schikanieren.

Amir: Doch, ein paar erkennt man wieder. Die sind alle gleich beschissen, die sehen dich sofort als Verdächtigen an, auch die türkischen Beamten. Außer die vom LKA. Die sind nett.

Geht ihr eigentlich auch schon am Abend davor zur Walpurgisnacht in den Mauerpark in Prenzlauer Berg?

Amir: Es wird immer so getan, als ob am 1. Mai in Kreuzberg nur ausländische Jugendliche randalieren. Nur, warum sind hier so viele Ausländer? Weil wir hier wohnen. Am Mauerpark wohnen nicht viele Ausländer. Da würde ich auch nicht extra hinfahren, nur um zu randalieren.

Aber die Weddinger Gangs kommen nach Kreuzberg.

Amir: Aber Wedding ist ja auch nicht so weit.

Was hast du am 1.-Mai-Abend genau gemacht?

Amir: Ich hab mir das angeguckt und bin mitgelaufen.

Hast du keine Angst, festgenommen zu werden?

Amir: Verhaftet werden nur die Dummen.

Bestimmt hast du gesehen, dass die Polizei in der Reichenberger Straße völlig ahnungslos war, als sie attackiert wurde. Du hast eben gesagt, du würdest nicht provozieren, wenn sich die Polizei friedlich verhielte.

Amir: Doch nicht am 1. Mai. Ich meine die übrige Zeit im Jahr.

Was denkst du, wenn du siehst, dass Steine gegen die Polizisten geschmissen werden?

Amir: Eigentlich freut mich das. Die Polizei reagiert sich ja auch ab. Ich war mit meinen Freunden unterwegs. Wir haben gesehen, wie ein Polizist Steine abkriegte, auf einmal steigen sechs Polizisten aus und schlagen meinen Freund zusammen. Einfach so. Die haben auch ihren Spaß. Was soll man da noch machen? Du hast so ne Wut und du hast die Chance.

Peter Grottian: Dass Polizisten Demonstranten verprügeln, geschah dieses und letztes Jahr relativ selten.

Amir: „Selten“ ist immer noch zu viel.

Grottian: Unser Konzept vom letzen Jahr war, dass Gewalt nur dann gemindert wird, wenn die Polizei überhaupt nicht mehr präsent ist. 2003 erlebten wir am Mauerpark und in Kreuzberg aber, dass es auch ohne Polizeipräsenz zu Gewalt kommt.

Amir: Da kommen ja Leute aus Frankfurt und Hamburg und Frankreich, um Krawall zu machen.

Grottian: Das stimmt nicht, die meisten kommen aus Berlin.

Amir: Aber es gibt welche, die kommen extra dafür her. Wenn ich ehrlich bin, macht es auch einfach Spaß, da hinzugehen. Viele geben das nicht zu, aber den meisten gefällt das, ein Auto kaputtzumachen. Letztes Jahr war es zum Bespiel gut. Da haben sich die Bullen die ganze Zeit zurückgehalten und deswegen eskalierte es auch viel mehr. Die ganzen Läden wurden ausgeräumt.

Ali: Am 1. Mai kann man machen, was man will. So ähnlich wie zu Silvester.

Grottian: Dieses und letztes Jahr sind im Mauerpark und in Kreuzberg viele Passanten verletzt worden. Das hat mit Polizei überhaupt nichts mehr zu tun.

Amir: Ich sage ja nicht, dass die Polizei an allem schuld ist. Letztes Jahr war kein einziger Polizist da. Die Leute haben angefangen untereinander zu kämpfen, die wollen einfach nur Stress machen.

Murat: Ich bin früher auch am 1. Mai losgezogen, allerdings nicht um Bullen zu schlagen, sondern um in die Läden reinzugehen und einfach was rauszuholen, wenn Panik war. Einen Computer oder so. Das macht einfach Spaß und keinen interessiert’s. Die Stadt gehört dir. Politik hat mich nie interessiert. Und wenn ein Bulle allein an dir vorbeiläuft, haust du ihm das Ding auf den Kopf. (lachen). So war das doch, Alter. Aber ich habe das seit sechs Jahren nicht mehr gemacht.

Warum hast du aufgehört?

Murat: Ich bin 24, für mich gelten jetzt härtere Gesetze und mir droht bei Ärger die Abschiebung.

Was sagen eure Eltern, wenn ihr am 1. Mai die Wohnung verlasst?

Amir: Meine Mutter sagt, geh da nicht hin. Aber wenn es da schon ein Konzert für Jugendliche gibt, zum Anlocken, dann muss ich ja wohl hingehen.

Murat: Meine haben früher immer gesagt: Pass auf dich auf. Nicht dass du hingehst, wo Krawall ist. Nein, ich doch nicht, hab ich immer gesagt (lacht).

Ali: Ich war nicht da, weil ich von meinem Vater keine Schläge kassieren wollte.

Dein Vater würde dich schlagen, wenn du zum 1. Mai gehst?

Ali: Nicht direkt schlagen. Er würde schimpfen. Geh zur Schule, lernen! Ich gehe nicht zum 1. Mai, aus Respekt vor meinen Eltern.

Interessiert ihr euch eigentlich für Politik?

Amir: Ich finde, Deutschland und Berlin ist das beste Land der Welt. So wie es jetzt ist, ist es doch schön, oder?

Grottian: Aber wogegen richtet sich dann deine Wut?

Amir: Gegen die Polizei.

Was denkt ihr über die vielen politischen Gruppen, die am 1. Mai auf der Straße sind?

Amir: Die machen ihr Ding. Uns ist das egal. Ich würde vielleicht noch auf eine Antikriegsdemo gehen oder auch auf eine Abu-Jamal-Demo, aber was die an dem Tag wollen, ist mir eh nicht so richtig klar.

Die Revolutionäre 1.-Mai-Demo soll was mit Aufstand und Arbeitern zu tun haben.

Ali: Jeder demonstriert an diesem Tag gegen das, was er Scheiße findet. Die meisten denken, der 1. Mai ist so wie „Playstation zwei“ spielen.

Könnt ihr mit dem Begriff Revolution etwas anfangen?

Amir: Nö. Die werden das doch eh nie schaffen. Schon gar nicht hier in der kaputtesten Gegend Berlins.

Dass es euer Bezirk ist, der jedes Jahr demoliert wird, stört euch nicht?

Amir: Das ist mir eigentlich egal.

Da wohnen doch Leute, die ihr kennt.

Amir: Ja. Aber die, die ihre Autos dort stehen lassen, haben auch alle eine gute Versicherung.

Es heißt, ihr seid rivalisierende Gangs.

Amir: Dieses Jahr waren da Jungs aus Neukölln, die sich gegen die Jungs vom Kotti verbündet haben. Die hatten einen Streit, aber das hatte nichts mit dem 1. Mai zu tun.

Diesmal wurden von randalierenden Jugendlichen auch friedliche Passanten, darunter eine Frau, verprügelt.

Amir: Wenn an jeder Ecke ein Mannschaftswagen stehen würde, würden die Krawalle wahrscheinlich kleiner ausfallen.

Mehmet: Wenn die Polizei solche Großaufgebote sein lassen würde, würde die Situation nicht so leicht eskalieren. Wenn erst mal etwas eskaliert ist, ist es vorbei. Die Krawalle verteilen sich ganz schnell. Dann werden Menschen verletzt, Läden ausgeraubt. Bis die Polizei eintrifft, ist es meistens zu spät.

Grottian: Mir wäre es nach wie vor lieber, wenn sich 50.000 Menschen in Kreuzberg versammeln und die Polizei wäre überhaupt nicht dabei. Und die Bürgerinnen und Bürger versuchten das Ganze untereinander zu regeln, indem sie sagen: Lass den Stein liegen, das ist Quatsch.

Mehmet: Um dann per Handy über 110 Hilfe rufen zu müssen?

Grottian: Ihr sagt: Rache nehmen. Wenn die Polizei nun aber gar nicht da ist, an wem wollt ihr euch dann abreagieren?

Mehmet: Der 1. Mai ist die Gelegenheit, alles mal rauszulassen. Es gibt auch Leute, die zu Hause sitzen und Bücher lesen oder Drogen nehmen, um abzuschalten und die ganzen Probleme zu verarbeiten.

Die Polizei versucht euch im Vorfeld anzusprechen. Beamte kommen in die Schulen. Wie findet Ihr das?

Ali: Die haben uns vom 1. Mai erzählt, uns Videos gezeigt, wir durften auch ihre Anzüge anziehen. 20 Kilo wiegen die. Die haben mit uns geredet, um uns abzuschrecken, und erzählt, dass man bestimmte Sachen nicht mehr bei sich tragen darf, Butterflys zum Beispiel.

Hat das Einfluss auf euch?

Ali: Ein wenig schon. Aber wenn du da bist, siehst du, dass deine Freunde Steine schmeißen. Dann schmeißt du auch. Du hast deinen Spaß und rennst weg. Wenn einer anfängt, machen alle mit.

Wie wird es weitergehen? Werdet ihr, wenn ihr älter werdet, einfach aufhören damit?

Amir: Klar ändern wir uns. Aber ich bin noch nicht erwachsen.

Du bist schon 18, du könntest also auch schon Verantwortung übernehmen.

Amir: Ich könnte auch schon mit 16 Dinge in die Hand nehmen. Am 1. Mai halte ich mich so weit zurück, dass ich nicht erwischt oder fotografiert werden kann.

Freut ihr euch schon auf den nächsten 1. Mai?

Ali: Wer nicht?

Habt ihr keine Angst, dass ihr mal einen Stein abkriegt?

Amir: Da ist eine Linie, und von dort wird geworfen. Wer sich nicht daran hält, ist ein Idiot.

Die Steine flogen doch aus allen Richtungen.

Amir: Dann habt ihr falsch gestanden. GESPRÄCHSFÜHRUNG:
FELIX LEE, PLUTONIA PLARRE,
CEM SEY, ADRIENNE WOLTERSDORF