Estland: Schwestern der starken Wikinger?

VON KLAUS-HELGE DONATH

Die Esten kennen keine Geschlechter, zumindest keine grammatikalischen. Ob er oder sie, das schafft sprachlich keine Probleme. Zahlreiche Mythen machen aus den Estinnen hart gesottene Schwestern der selbstständigen kriegerischen Wikingerfrauen im Norden. Im Unterschied zu den Skandinavierinnen hatten sich die Estinnen aber nicht nur ihren Ehemännern zu fügen, sondern waren auch fremden Grundherren untertan. Estinnen griffen auch nicht wie die Wikingerfrauen zu den Waffen, stattdessen schufteten sie auf Kartoffeläckern Seit an Seit mit ihren Männern.

Nun mag es die „Frauen von Wesenberg“ tatsächlich gegeben haben, die Jaan Kross, Estlands bekanntester historischer Romancier, im gleichnamigen Roman beschreibt. Die Frauen wehrten sich gegen die Grundherren in der Hoffnung, ihre Männer vor dem Tod retten zu können. Gleichwohl tauchen legendäre Frauengestalten nur in solchen Zusammenhängen auf, wo Schwächen des Mannes sich nicht mehr verbergen lassen, räumen Frauenrechtlerinnen ein. Die Estin sei bestenfalls „der Nacken, der den Kopf des Mannes dreht“.

Das rollenspezifische Ideal der Estin folgte bis zur Okkupation des Baltikums durch die Sowjetunion 1940 dem kleinbürgerlichen deutschen Vorbild und nicht etwa dem der emanzipierten Skandinavierinnen. Der bekannteste estnische Ideologe des vergangenen Jahrhunderts, Jaan Toenisson, hielt sich in der Frauenfrage ganz an Bismarck: Kinder, Küche, Kirche.

Die russischen Besatzer folgten den Vorgaben der finno-ugrischen Linguistik und machten alle Esten zu geschlechtslosen Genossen. Mit den Folgen hätten die Estinnen bis heute zu kämpfen, meint die Journalistin und Wissenschaftlerin Barbi Pilvre, eine der wenigen auch noch humorvollen Feministinnen. So sorgen unter heimischen Leserinnen die „Frauen, die mit den Wölfen heulen“ der Autorin Clarissa Pinkola Estes für Gesprächsstoff. Sie hält es mit der klassischen Rolle der Frau. Simone de Beauvoir rührt frau indes nicht an. Zu gnadenlos, so das einhellige Urteil.

Für Prostituierte bringen Estinnen denn auch mehr Verständnis auf als für Feministinnen. Minderheitenrechte, postmoderner Diskurs, Psychoanalyse und feministische Theorien sind in Estland noch nicht angekommen.

Die Unterdrückung des traditionellen Frauseins im Kommunismus beschert der Schönheitsindustrie seit Jahren ungeheure Wachstumsraten, und das Ende des Booms ist nicht abzusehen. Frausein? „Fesselnd, eine völlig neue Erfahrung nach den geschlechtslosen Jahren als Genossin“, jubeln Frauenmagazine. Und dazu gehört natürlich auch Evas Selbstmystifizierung als unbekanntes Wesen. Sicherste Formel für Erfolg: verführerisches Weiblichsein und ein Mann mit Geld. Die Sowjetzeit sei schuld, dass Estinnen nicht von Gleichheit, Frauenorganisationen und Partizipation träumen, glauben Gender-Forscherinnen an der Uni Tartu.

Estinnen müssen mit siebzig Prozent des Männerlohns vorlieb nehmen und sind nach wie vor in die prestigearmen sozialen Berufe verbannt. Obwohl besser ausgebildet als Männer, haben sie auf dem Arbeitsmarkt geringere Chancen. Daran wird sich auch nichts ändern, solange die öffentliche Meinung politischen Aktivitäten der Frauen eher misstraut. Ginge es allein nach den Vorstellungen der jüngeren männlichen Politikergeneration, könnte ruhig alles beim Alten bleiben. In ihren Augen ist der Feminismus ein Produkt gelangweilter westlicher Gesellschaften, denen es an wirklichen Problemen mangelt. Sie preisen die „authentische estnische Weiblichkeit“ und würden es begrüßen, wenn dieser europäische Einfluss die Küste Estlands nicht erreichen würde.