Bodenturnen mit Büchner

Planet Peymann goes Pop: George Bushs texanischer Zwilling Robert Wilson und der deutsche Volksküchenpsychologe Herbert Grönemeyer geben dem Büchner Zucker. Nur ist „Leonce und Lena“ vor allem eine perfekte schauspielerische Ensembleleistung

von ANDREAS MERKEL

Da sagt man natürlich nicht Nein. Im Juli 2002, ganz bewusst noch vor dem Erscheinen seines Jahresbesten-Albums „Mensch“, will Robert Wilson bereits bei Herbert Grönemeyer telefonisch angefragt haben, ob dieser mit ihm „Leonce und Lena“ auf die Bühne bringen wolle. So eine Chance, sich zum Lou zu machen, kann sich natürlich kein ernst zu nehmender Deutschrocker entgehen lassen. Und so gelang dem Theaterpaten Claus Peymann, über dessen Wirken im Hintergrund nur spekuliert werden kann, wieder mal der große Coup: Die Premiere des letzten Teils von Robert Wilsons Büchner-Trilogie nicht nur in sein Berliner Ensemble zu holen (Wiederaufführungen von Wilsons „Woyzeck“- und „Dantons Tod“-Inszenierungen sind ebenso geplant), sondern sie auch noch einen Tag vor Beginn des Berliner Theatertreffens stattfinden zu lassen.

Große Aufregung und reichlich Prominententrubel also am 1. Mai im naturgemäß restlos gefüllten Berliner Ensemble. Die beiden einander vorbildlich ergänzenden enormen Windmacher Wilson und Grönemeyer hatten in den Wochen zuvor noch einmal alles gegeben: Der eine imaginierte sich in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung als Zwillingsbruder von George Bush („Wir kommen beide aus Texas“ oder irgendwie so), und der andere gab dafür im Stern ein paar Grönemeyers über die deutsche Volksseele zum Besten: zu unentspannt, zu larmoyant, lachen tatsächlich nicht über Komödien.

Also erst mal locker machen und Vorhang zu. Denn die Inszenierung beginnt noch vor dem eigentlichen Stück, indem der aerodynamisch frisierte Staatsrat aus dem Reiche Popo im Höllentempo zu den swingenden Tönen von „Büchners Erben“, der hervorragenden Begleitband des Abends, über die Vorbühne grooven. – Hey, was geht ab!?

Die Robert-Wilson-Maschine läuft an: beeindruckende Bühnenbilder von leuchtender Transzendenz (dass man meint, durch die Bühnenwand hindurch bis nach Italien gucken zu können!) und superpräzise Choreografien – Wilsons Theater als ein Theater der Hände! – irgendwo zwischen poetisch selbstversunkenem Qi Gong und schwuchteligem Rokoko-Rumgehopse. Und immer mal wieder ein Song von Herbert (aber hierzu später mehr!). Insgesamt also arrivierte Avantgarde für „aspekte“-Gucker: Alles funktioniert ein wenig zu geschmiert, vor allem das Stück selbst.

Weil es doch eigentlich ein genial unmotiviertes Antistück bleibt. Leonce, Prinz aus dem Reiche Popo, hat beim melancholischen In-die-Wolken-Starren auch gleich das Leben und die Liebe restlos durchschaut und will nicht heiraten. Schon gar nicht die Prinzessin Lena von Pipi, wie es sein Vater König Peter aus einer Laune heraus eingefallen ist. Die beiden fliehen, lieben sich ebenso zufällig wie unerkannt und heiraten doch noch als vermummte Automaten, bis es heißt: Masken herunter!

Aber keine Angst, trotz des Titels „Lustspiel“ und der etwas bescheuerten Namen, die Büchner seinen Charakteren verpasst hat, ist „Leonce und Lena“ immer noch ein sehr lesbarer Text (wenn Sie mal wieder die Gelegenheit haben: Reclams Universalbibliothek, Band 7733), der auch in der Inszenierung von Robert Wilson und Herbert Grönemeyer – obgleich stark verschlankt – angenehm deutlich erkennbar bleibt.

Den antipolitischen, antiromantischen Furor, mit dem Büchner in „Leonce und Lena“ gegen die dualistische Migräne der Moderne ins Feld zieht, lassen Regisseur und Musiker allerdings ungenutzt verstreichen. Zugunsten hochpoetischer Einfälle – wie das überirdisch von der Bühnendecke herabschwebende Kerzenmeer – und einer Nummernrevue eher peinlicher Slapsticks – wie ein Diener diese Kerzen dann mit verrenkten Posen anzündet.

Zu weiten Teilen wird diese Inszenierung denn auch einzig von einer wunderbaren schauspielerischen Leistung des gesamten Ensembles zusammengehalten. Markus Meyer gibt den Leonce als manischen Melancholiker und zackig-fiesen Bodenturner, der laut denkend – „Bravo, Leonce, Bravo!“ – seine Flickflacks schlägt. Walter Schmidinger spielt den senilen König Peter dagegen wie eine zu langsam und auf Mono abgespielte Hans Moser-Schallplatte. Und „Semmeling“ Stefan Kurt ist als Narr Valerio ohnehin der Star des Abends, ein philosophisch heruntergekommener Alt-Punk, der – wenn es sein muss – wunderbare Grönemeyer-Parodien in den Saal schmettert.

Leider muss spätestens an dieser Stelle mit Nachdruck darauf hingewiesen werden, dass das Stück in der vorliegenden Fassung ein Muscial geworden ist. Während Grönemeyers sphärische Muzak-Melodien zu Büchners Texten im Hintergrund bestenfalls nicht weiter stören, so lassen die von ihm selbst geschriebenen (und getexteten!) Songs dem ganzen Abend fast die Luft ausgehen. „Es geht alles von selbst / Wenn nur keiner denkt, / Alles gibt sich beizeiten, / Wenn niemand schafft und keiner lenkt“ – das ist alles, was der Generation Schröder zu Valerios Schlussmonolog voller Gegenwartsbezüge (weniger arbeiten!, kommodere Religionen!) einzufallen scheint.

Am Ende gab’s dennoch einen ebenso euphorischen wie verdienten Schlussapplaus für die grandiosen Schauspieler, den die Macher sich wohl als Gesamterfolg verbuchen werden. Die nächsten Vorstellungen sind bereits ausverkauft. Planet Peymann – im Kampf um Lottosubventionen – goes Pop. Da konnte wieder keiner Nein sagen.

Weitere Vorstellungen: 10.–12., 14.–16., 31. Mai, 1., 2. Juni.