Trau schau wem auf Speed

Real existierende Abgründe des Wahns: Frank Witzels Roman „Revolution und Heimarbeit“

Frank Witzel, der Meister literarischer Vivisektion, hat nachgelegt. Sein neuer Roman „Revolution und Heimarbeit“ knüpft an die Orgie aus Irrwitz, Erinnerungswut und Paranoia an, mit der er bereits in „Blue Moon Baby“ zu überzeugen wusste. Wieder geht es dem 1955 in Offenbach geborenen Liebhaber lyrischen Pops um die real existierenden Abgründe des Wahns. Aufgefächert in ein thrillerartiges Plot, verwebt Witzel fragmentarisierte Subjektivitäten zu einem kaum zu entwirrenden Geflecht einander scheinbar ebenso zwangsläufig wie zufällig bedingender Wechselwirkungen und schickt den Leser in einen Mahlstrom durcheinander tanzender Erzählstränge, Reflexionsebenen und philosophischer Diskurse.

Witzels Held, ein glückloser Journalist um die fünfzig, steckt in einer Lebenskrise. Er entschließt sich, in den USA die Genesis eines Verbrechens zu recherchieren. Während er aufbricht, sucht er sich Rechenschaft darüber abzulegen, was ihn motiviert. Denn wenn ihm eines klar zu sein scheint, so ist es die fortgeschrittene Eitelkeit, nach Sinn stiftenden Erkenntnissen zu suchen. Jedenfalls entlarvt sein dialektisch gestählter Denkapparat alles, was als Bodensatz ideeller und ideologischer Glaubensgewissheiten durch das Bewusstsein schwappt, als Selbsttäuschung. Trotzdem entschließt er sich, die Hintergründe einer geplanten Kindesentführung zu recherchieren.

Der Journalist fängt an, Zeugnisse zu sammeln. Doch das, worauf er stößt, bleibt kryptisch. Die Aussagen widersprechen sich. Immer, wenn sie sich dem entscheidenden Punkt nähern, brechen sie ab. Er ermittelt weiter, obwohl ihm das Geld ausgeht. Er merkt, dass er die Distanz verliert, aber alle Versuche, sich von dem Fall zu lösen, scheitern. Langsam wird die Bedrohung für ihn existenziell. Die bemüht distanzierte Betrachterebene, an die er sich klammert, lässt sich nicht länger halten, zerplatzt, und plötzlich stürzt er mitten ins Auge des Orkans.

Ungefähr so erschließt sich die Handlung aus dem Kanon verschiedenster Stimmen, die einen immer dichter werdenden Kokon aus Fakten und Fiktion spinnen. Wenn „Revolution und Heimarbeit“ denn ein Kriminalroman wäre. Was er nicht ist. Obgleich er stellenweise wirkt, als hätten sich Thomas Bernhard und Kurt Vonnegut mit Andrew Vachss zusammengehockt, um Nicolaus von Cues’ „De docta ignoratia“ zu einem „hard boiled“ umzubürsten. Postmoderne Spätscholastik, sozusagen, verkatert und auf Speed. Doch zwischen den Trümmern der geistreich in die Irre geführten Leseerwartungen und lustvoll zerlegten literarischen Klischees treiben bündelweise bittere, kluge und amüsante Einsichten: über unsere medial manipulierte Epoche, über die schwachsinnigen Diskurse, denen wir frönen, um den längst fälligen Erkenntnisinfarkt hinauszuzögern, über unsere kollektiven Lebenslügen.

Kein niedlicher Roman, kein leicht zu lesender, aber ein ebenso fulminanter wie erhellender. Sofern man bereit ist, Skepsis gegenüber eigenen Gewissheiten zuzulassen und sich der Wucht des Zweifels zu stellen. Dann ist er nahezu erbaulich. Im aufklärerischen Sinne. CHRISTOPH ERNST

Frank Witzel: „Revolution und Heimarbeit“. Edition Nautilus, Hamburg 2003, 255 Seiten, 19,90 Euro