Shopping auf Türkisch – Beten für die Kundschaft

Im Paralleluniversum der Migranten entscheidet die Religion darüber, wo man seine Tomaten kauft. Aleviten kaufen bei Aleviten, Sunniten bei Sunniten, und der Imam gibt seinen Senf dazu

von CEM SEY

Der alte Mann, der beim Lebensmittelhändler Arif Hackfleisch bestellt, trägt Vollbart. Ein „Haci“ also, denkt sich Arif, ein Pilger, ein strenger Muslim. Der Kreuzberger Lebensmittelhändler stopft dienstbeflissen Lammteile in den Fleischwolf und sammelt das Gehackte auf einem Blatt Wachspapier. Als er sich kurz darauf umdreht, um zu fragen, ob’s noch was sein darf, ist der Mann verschwunden. Wütend rennt Arif hinaus auf die belebte Oranienstraße und sieht den alten Mann mit schnellen Schritten davoneilen. Der Kunde ist noch nicht weit gekommen, als Arif ihn am Kragen packt und anschnauzt: „Warum bestellst du erst Gehacktes und verschwindest dann?“ Der alte Mann antwortet verängstigt, aber entschlossen: „Du bist ein Sünder. Ich habe bei dir Raki-Flaschen im Regal gesehen. Bei dir kaufe ich nicht mehr ein!“

Arif kann es egal sein, denn sein „Market“, ein paar Meter von der belebtesten Kiezkreuzung entfernt, läuft gut. Der alevitische Geschäftsmann übernahm den 1978 gegründeten Laden vor einigen Jahren von seinem Vater. Die meisten seiner Kunden sind Deutsche, sagt er, „deswegen bin ich nicht auf eine bestimmte Kundschaft angewiesen.“ Obwohl er nicht mit seiner Herkunft wirbt, kaufen bei ihm auch die Aleviten des Viertels ein. „Meine Tür steht aber auch Sunniten offen“, meint er freundlich. Dennoch ist ihm klar, dass die strenggläubigen Sunniten, die an die Rechtmäßigkeit des Kalifen glauben und die große Mehrheit der Muslime in Kreuzberg stellen, lieber bei ihresgleichen einkaufen.

Dem moralischen – und finanziellen – Druck dieser Kundschaft müssen sich die meisten türkischen Ladenbesitzer anpassen. Wer daher in einem „Bakkal“, einem der zahlreichen kleinen türkischen Lebensmittelgeschäfte, nach Raki, dem beliebten anatolischen Anisschnaps, fragt, muss bisweilen mit einer etwas unklaren Auskunft rechnen. Zunächst vergewissert sich der Verkäufer, dass keiner der anderen anwesenden Kunden ihn beobachtet, dann erst holt er die oft sorgfältig versteckten Flaschen des Hochprozentigen hervor.

Zahlreiche türkische Einzelhändler haben sich jedoch schon vor Jahren ihrer strengen Kundschaft angepasst – und verzichten in ihrem Sortiment nun völlig auf Alkoholika. Denn da fängt bei den orthodoxen Migranten der Ernst an. Wer Raki verkauft, nicht zum Beten in der Moschee erscheint oder anderweitig als „Sünder“ auffällt, wird von ihnen kurzerhand boykottiert.

Boykott in Allahs Namen

Der geschäftstüchtige Steuerberater Levent gehört zu denjenigen Migranten, die aus dieser geistigen Selbstbeschränkung der türkischen Gemeinschaft allerdings Kapital zu schlagen versuchen. Zum Mittagsgebet ist er daher oft in Kreuzberger Moscheen zu finden. Hier geht der quirlige Deutschtürke auf Kundenfang. Nach dem Gebet setzt sich Levent in die Teestuben der Moscheen, wo die Männer im türkischen Fernsehen die aktuellen Nachrichten aus der Heimat verfolgen, und erklärt ihnen die Vorteile einer von ihm angefertigten Steuererklärung. Durchaus erfolgreich.

Schon seit Jahren bestimmt in der türkischen Parallelgesellschaft Berlins die religiöse und ethnische Zugehörigkeit das Einkaufsverhalten der Migranten. Sunniten kaufen bei Sunniten, Kurden bei Kurden, Araber bei Arabern. Selbst die als „weltoffen“ geltenden Aleviten, eine Glaubensgemeinschaft, die alttürkisch-schamanistische, christliche, manichäische und zoroastrische Vorstellungen mit einem Islam schiitischer Prägung verbindet, achten auf ethnische Übereinstimmung. Insbesondere Unternehmer bevorzugen Gesinnungs- oder Glaubensbrüder, wenn sie einen Auftrag zu erteilen haben. Und nicht selten gilt der Umkehrschluss: Geschäftsleute, die sich keiner Gemeinde zugehörig fühlen, stehen bald mit leeren Händen und leeren Auftragsbüchern da.

Schon vor einigen Jahren haben sich daher kurdische Unternehmen in Berlin in einem „Kurdischen Unternehmerverband“ zusammengeschlossen. Mit der Zielgruppe „Landsleute“ und dem in den 90er-Jahren in Mode gekommenen „Ethnomarketing“ entstanden sogar Kooperationen mit deutschen Firmen. In Zusammenarbeit mit der Mannheimer Brauerei Becker zum Beispiel wurde „Keko Birasi“-Bier angeboten. Ebenso entstand „Zelal“-Mineralwasser in Kooperation mit einer luxemburgischen Firma, die Wasser aus dem selben Quellgebiet anbietet, aus dem des bekannte französische „Volvic“ stammt. Denn selbst beim Wasser gilt: Kurden kaufen am liebsten kurdisch, die Türken am liebsten alles aus der eigenen Heimat.

Kurden kaufen kurdisch

Bereits zu Beginn der 90er-Jahre versuchten die Aleviten ihre Berliner Klientel durch eine Genossenschaft zusammenzubringen. Alisan Genc machte damals eine einfache Rechnung: „Wenn man die Mehrheit der Aleviten als Kunden gewinnt, lohnt sich ein groß angelegtes Geschäft.“ Auf seine Initiative hin schlossen sich damals 365 Aleviten mit jeweils tausend Mark Startkapital zusammen und gründeten „Al-Birlik“ – die erste alevitische Genossenschaft der Welt. Schon bald öffnete das Unternehmen in der Hauptstadt einen großen Supermarkt nach dem anderen. Der Gewinn floss in eine Stiftung zur Stärkung der alevitischen Kultur in Deutschland. Diese wiederum sollte bei der zukünftigen Kundschaft werben. Begeistert folgten zahlreiche Aleviten Alisan Genc’ Aufruf, und das Projekt begann erfolgversprechend. Doch dann „verwechselten die Mitglieder unsere Genossenschaft mit einer politischen Vereinigung“, sagt Genc heute. Das Projekt endete im Streit. Seitdem kaufen die alevitischen Mütter statt bei „Al-Birlik“ wieder im Laden um die Ecke. Egal, ob ihnen hier Aleviten, Sunniten oder Deutsche die Tomaten verkaufen.

Recht gewissenhaft und weil sie die große Mehrheit der hier lebenden Migranten stellen, kaufen nur noch die strenggläubigen Sunniten so wählerisch ein. Ayse, die junge türkische Ehefrau eines Lebensmittelhändlers am Neuköllner Hermannplatz, trägt zu Hause in der Türkei am liebsten Miniröcke und hohe Absätze. In ihrer Berliner Heimat ist sie nur im „modernen islamischen Outfit“ zu sehen: Kopftuch und ein langes Gewand. Das Händlerpaar hat es eben mit einer orthodox-muslimischen Kundschaft zu tun.

Kopftuch für die Kunden

Der Existenzkampf unter den Händlern ist hart – auch im Migrantenmillieu. Kürzlich stritten deshalb in der orthodoxen Muradiye-Moschee im Hinterhof eines Mietshauses am Kottbusser Damm lauthals zwei Ladeninhaber. Draußen, auf sich gegenüber liegenden Straßenseiten, lockte ihr farbenprächtiges Gemüseangebot die wählerischen türkischen Kundinnen. Drinnen, am schwarzen Brett der Moschee, hängten die beiden Männer zankend und schimpfend immer wieder ihre Werbezettel um. Auf beiden stand jeweils fett gedruckt, wie viel der Geschäftsmann zum Opferfest für die Armen gespendet hatte. Beide Männer bestanden darauf, dass jeweils ihr Zettel über dem des Konkurrenten hängen sollte.

Dass nur angepasstes religiöses Verhalten belohnt wird, bekam auch der Inhaber des „Laz Market“ am Hermannplatz zu spüren. Dabei hat Gökhan Kör die besten Voraussetzungen, um sich im Kampf der Rechtgläubigen zu behaupten. Er ist Theologe und ausgerüstet mit einem Hochschulabschluss einer der renommierten theologischen Fakultäten der Türkei. Schon vor einigen Jahren hatte er seinen Laden umbenannt in „Lasen-Markt“, weil die aus der Nordtürkei stammende Kundschaft, die zur Volksgruppe der Lasen gehört, es so wollte. Mehr Kunden lasischer Herkunft kamen allerdings nicht. „Das sind strenge Muslime, die kaufen eher bei den Orthodoxen ein“, sagt Kör. Die gute Geschäftslage zwischen den beiden Moscheen am Kotti und in der Sonnenallee nützt ihm nichts mehr. Denn in beiden hatte sich Kör auf theologische Diskussionen eingelassen. Später trug man ihm zu, dass ein Imam während des Freitagsgebets die Gemeinde zum Boykott seines Ladens aufgerufen hatte.

Nur wenige Ladenbesitzer können sich gegen solchen religiösen Rufmord wehren. Arif aus der Oranienstraße hatte Glück. Eines Tages erwischte er den alten Mann, der ihn „Sünder“ nannte, in einer Spielhölle, als dieser seine Haushaltskasse durch Glücksspiele zu sanieren versuchte. Arif packte ihn zum zweiten Mal am Kragen und zerrte ihn zur Moschee. Laut und vor allen anderen Besuchern schimpfte er: „Was seid ihr für verlogene Leute? Ihr unterstellt Andersgläubigen, Sünder zu sein, nur weil sie Alkohol verkaufen, geht aber selber Glücksspielen nach. Schämt euch!“