Der Erzieher als Problem

Wenn Kinder und Jugendliche durch Schockpädagogik belehrt werden, muss Vermittlung scheitern. In Schöneberg widmete sich eine Tagung der Frage „NS und Holocaust – ein Thema für Kinder?“

VON ULRICH GUTMAIR

Mit den nüchternen Augen des Historikers besehen steht Auschwitz für die effiziente Aussonderung und industriell vollzogene Vernichtung von Millionen von Menschen, organisiert in einer der kulturell und ökonomisch führenden Nationen Europas. Man kann die Chiffre „Auschwitz“ aber auch abstrakt als den Extremfall rassistischer Diskriminierung verstehen. In Deutschland verweist sie darüber hinaus auf heikle Fragen wie die, inwiefern die eigenen Vorfahren an den Verbrechen als Zuschauer oder gar Täter beteiligt waren und wie man diese Geschichte jenen Kindern vermitteln soll, deren Eltern oder Großeltern gar nicht aus Deutschland stammen.

Insofern ist es kein Wunder, dass Erzieher auch 60 Jahre nach Kriegsende Schwierigkeiten mit der Vermittlung dessen haben, was man sich „Holocaust“ zu nennen angewöhnt hat. Dennoch ist es im Verlauf des Symposiums „NS und Holocaust – ein Thema für Kinder?“ verblüffend zu hören, was Kindern dabei zugemutet wird. Da antwortet die Mutter eines Mädchens auf den Hinweis einer Gedenkstättenmitarbeiterin, die Ausstellung sei für Kinder nicht geeignet, die jüdischen Kinder hätten auch keine Wahl gehabt. Da fordert ein Lehrer seine Schüler in Ravensbrück auf, sich die Schuhe auszuziehen, um nachzuerleben, wie die Insassen barfuß durch die Schlacke laufen mussten. Ein Berliner Rektor verdonnert Lehrer und Schüler zu einem Gedenkmarsch am 9. November, was dazu führt, dass einige der Schüler bekunden, sie hassten alle Juden.

Matthias Heyl, Leiter der Internationalen Jugendbegegnungsstätte Ravensbrück, spricht angesichts solcher „Pathologien“, womit nicht die Kinder und Jugendlichen, sondern die Pädagogen gemeint sind, vom deutschen „Patientenkollektiv“. Moderatorin Astrid Messerschmidt von der TU Darmstadt spricht von einer Instrumentalisierung des Themas und der Kinder, wenn Lehrer mit Zwölfjährigen zu KZ-Gedenkstätten fahren.

Zur Tagung hat ein neuer Berliner Kooperationsverbund eingeladen, zu dem das Jugend Museum Schöneberg, das Jüdische Museum, das Anne Frank Zentrum, das Museum Blindenwerkstatt Otto Weidt und die Initiative „Gesicht zeigen!“ gehören. Sie wollen Schulen kindgerechte Bildungsangebote machen, um Fehler zu vermeiden. Die meisten der Vortragenden sind wie der Erziehungswissenschaftler Micha Brumlik skeptisch, ob Kinder mit den belastenden Details der Massenvernichtung konfrontiert werden dürfen. Auch die Frage, ob die Schulung von Moral und Empathie den Verweis auf Auschwitz brauchen, wird von den Experten meist verneint. Keiner der Vortragenden setzt sich dafür ein, den Holocaust als Thema ins Curriculum der Grundschulen aufzunehmen.

Dennoch sind beinahe alle der Ansicht, dass Kinder ein Recht auf Antworten haben. Wenn Fünfjährige beim Spaghettiessen unvermittelt auf die Gaskammern zu sprechen kämen, sollten die Eltern versuchen, diese Frage zu beantworten, ohne gleich einen Vortrag darüber halten zu müssen, meint etwa Heike Deckert-Peaceman. Elke Gryglewski von der Gedenkstätte Haus der Wannsee-Konferenz glaubt, dass das Lernen über den Holocaust zu spät beginnt, wenn es erst in der Oberschule auf der Tagesordnung steht.

Immer wieder wird versichert, dass es nicht um das Ob geht, sondern auf das Wie ankommt. Matthias Heyl befürchtet, dass das stark ritualisierte Sprechen von Erwachsenen, die vorgeben, sich sicher auf dünnem Eis zu bewegen, die Zugänge für Kinder und Jugendliche eher verschließen. Sie merkten genau, dass es sich dabei um die Reproduktion eines Verhaltens „hoher sozialer Erwünschtheit“ handle. Zugleich erschienen vielen Jugendlichen heute selbst die Aussagen von Zeitzeugen beinahe so fern wie das Mittelalter.

Für Brumlik stellt sich daher die Frage, wie man den Holocaust zurückholen könne in die globalisierte Gegenwart. Das beantwortet Gryglewski mit der lakonischen Gegenfrage: „Muss man das?“ Sie vermutet, die emotionale Ferne heutiger Kinder zu diesen Ereignissen sei nur schwer zu überwinden. Gryglewski hat dennoch die Erfahrung gemacht, dass der Holocaust auch für jene Jugendliche von Belang sein kann, von denen die Mehrheitsgesellschaft vermutet, das interessiere sie nicht. Gryglewski hat mit vor allem arabischstämmigen Jugendlichen in Moabit einen Geschichtsworkshop veranstaltet, in dem es um den Holocaust, aber auch die Nakba, die Vertreibung palästinensischer Familien 1948, ging.

Gryglewski plädiert dafür, die Kinder zu motivieren, sich mit eigenen Familiengeschichten zu beschäftigen. Eine Hierarchisierung von Erinnerung dürfe es im Unterricht nicht geben. Das aber bedeute, die eigene Perspektive zu verändern: Jeder Jugendliche, ob mit oder ohne Migrationshintergrund, habe das Recht, die Geschichte des Nationalsozialismus kennenzulernen, sagt Gryglewski. Diese Formulierung klingt seltsam, weil sie die Auseinandersetzung mit Auschwitz beinahe als Privileg erscheinen lässt. Sie ist in Deutschland aber nicht nur die logische Konsequenz, sondern womöglich der ultimative Test jeder Forderung nach Integration.