tschernobyl hat keine angst vor einem krieg von ANDRÉ PARIS
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Der Ficus Benjamin in meinem Arbeitszimmer stirbt. Fallendes Blattwerk im Stundentakt verkündet seine Erschöpfung. Das ist bei Pflanzen nicht ungewöhnlich, speziell in der matten Jahreszeit. Beunruhigend ist das Ausmaß der Entblätterung. Weder Klimakatastrophe noch hausgemachte Dürre beeindruckten ihn bislang. Ebenso wenig ungebetene Gäste, die ihn „Yucca-Palme“ nannten und als Aschenbecher nutzten. Nikotinexzesse ertrug er genauso. Jetzt trägt er den Beinamen „Tschernobyl“, weil er aussieht wie eine unabgeholte Weihnachtstanne zu Trinitatis.

„Ich glaube, Tschernobyl hat Kriegsangst“, sagte eine Freundin dieser Tage. „Gewiss“, spottete ich, „Tschernobyl hat Kriegsangst, Ebola und die fünf ansteckendsten Krankheiten der Welt. Er erzählt nachts unanständige Witze. Möchtest du einen hören?“ Die Freundin ist Biologin und verkündet ihr Wissen an einer Waldorfschule. Wenn ihre Absolventen Pflanzen das Sprechen beibringen könnten, wäre das ein schöner Erfolg. Solange es nicht dazu führt, dass Kriege durch Pflanzen geführt werden und Dschungelstaaten demnächst Wüstenländer terrorisieren, möchte ich mich nicht einmischen. Dennoch: einer Pflanze – selbst wenn sie Tschernobyl heißt – Kriegsangst anzudichten, das geht eindeutig zu weit!

Vor allem aber zeigt es, dass „Kriegsangst“ im Kreislauf der Worthülsen den ersten Platz ergattert hat. Ähnlich wie zuvor die Worte Globalisierung und Modernisierung muss jetzt „Kriegsangst“ herhalten für Monstren, Mythen, Mutationen. Mit derlei Phrasen lassen sich umständliche Erklärungen und Eingeständnisse für unpopuläre Symptome auf ein einziges Wort reduzieren: konnten Entlassungen früher als eine Folge der „Modernisierung“ bezeichnet werden, durfte man anschließend auf die „Globalisierung“ verweisen, während man heute „Kriegsangst“ als Grund für Stagnation und Entlassungen nutzen kann. Wer vom vermeintlich Unveränderbaren erschlagen wird, braucht nach den Ursachen nicht zu suchen. Und ist die Kriegsangst erst beseitigt, hat sich „Globalisierung“ gewiss vom rüden Sprachgebrauch erholt. Ansonsten wird sich Neues finden.

Doch was mancher Pressesprecher ungestraft behaupten darf, ist im Privaten selten ruhmreich: als ich meiner Vermieterin das Ausbleiben der monatlichen Zahlung als Folge von Modernisierung und Globalisierung darlegte, drohte sie mit den Möbelpackern. Es bedurfte der Beschwichtigung. Ich bezweifele, dass „Kriegsangst“ als Begründung erfolgreicher gewesen wäre. Richtiger wäre ohnehin, nicht von Kriegsangst, sondern von Furcht zu sprechen. Angst bezeichnet ein unbestimmtes Gefühl der Bedrohung, deren Ursache unbekannt ist. Die Ursache aber ist bekannt. Und der Urheber auch.

Ich habe Tschernobyl nicht gefragt, ob ihm nach Demonstration oder Friedensgebet zumute ist. Auch von einer Dekoration durch eine Lichterkette habe ich bislang abgesehen. Tschernobyl hat keine Angst. Wie auch ich, fürchtet er sich vor den Gewissheiten eines beschlossenen Krieges.