Trainieren im heimischen Garten

Die Inder feiern mit dem Gewehrschützen Abhinav Bindra ihren ersten Goldmedaillengewinner, der als Individualsportler bei Olympia erfolgreich war. Warum hinkt das Milliardenvolk sportlich stets hinterher?

Inmitten der nationalen Misswirtschaft verschwand der Hochleistungssport aus dem Blickwinkel der Politiker

DEHLI taz ■ Abhinav Bindra heißt der neue Nationalheld von Indien. Der Schütze hatte in Peking beim 10-Meter-Luftgewehrschießen am Montag die erste individuelle indische Goldmedaille in der Geschichte der Spiele geholt. Die allererste! Der Vater des Goldschützen will ihm ein Luxushotel bauen, Indiens Eisenbahnminister Lalu Prasad schenkt ihm einen lebenslangen Freifahrtschein für die erste Klasse. Jetzt liegt das nach China bevölkerungsreichste Land der Welt Bindra zu Füßen.

Denn Indien ist sportverrückt. Wenn die indische Kricket-Nationalmannschaft irgendwo in der Welt zu einem Match antritt, bilden sich riesige Menschentrauben vor Geschäften, in denen ein winziger Fernseher läuft. Die manchmal Tage dauernden Begegnungen sind dann das Gesprächsthema Nummer eins. Gewinnt Indien gar ein Spiel gegen den Erzrivalen Pakistan, gerät das gesamte Land in einen Freudenrausch. Autokorsos blockieren die Straßen, die Menschen werfen mit Böllern um sich, das Land befindet sich im Ausnahmezustand. Indien bekommt dann sogar einen Hauch von Italien.

Auch Sania Mirza, das indische Tennissternchen, machte weltweit Schlagzeilen, als sie sich dieses Jahr ins Finale der Australian Open spielte. Zeitweise belegte sie Weltranglistenplatz 27. Die indische Feldhockeymannschaft gehört ebenfalls zur erweiterten Weltspitze und holte zumindest früher Titel. Doch bei fast allen anderen Sportarten sieht es düster aus. Die indische Fußballnationalmannschaft rangiert derzeit auf Weltranglistenplatz 153, zwischen Luxemburg und den Malediven.

Wie kann es sein, das ein so großes Land wie Indien mit 1,1 Milliarden Einwohnern, immerhin einem Sechstel der Menschheit, bei den allermeisten Sportarten so mies abschneidet? „In Indien gibt es keine nationale Sportkultur“, sagt Nalin Mehta. Der junge Historiker und Soziologe hat kürzlich ein Buch zu Indiens Olympiageschichte seit 1920 veröffentlicht.

„Kricket ist in den 80ern groß geworden, als die indische Nationalmannschaft international beachtete Siege eingefahren hat“, sagt Mehta. Daher sehe man auch im ganzen Land Jungs Kricket spielen: Kricket-Spieler sind Berühmtheiten, die Unsummen verdienen. „Aber man wird kein einziges Kind finden, das Leichtathlet werden möchte.“

Zudem gibt es im ganzen Land so gut wie keine Sportanlagen. „Wenn ein Kind Leichtathlet werden möchte, hat es dazu eine Chance, wenn es in Delhi lebt. Hier gibt es Sportstätten.“ Außerhalb Delhis, etwa auf dem Land, könne es das aber vergessen. Die guten Leistungen des nationalen Hockeyteams sei daher fast ein Wunder – in ganz Indien gebe es gerade mal knapp ein Dutzend Hockeyfelder.

„Die Ursache dafür ist, dass in Indien nach der Unabhängigkeit auf Sport keinerlei Wert gelegt wurde“, erklärt Mehta. Es sei alles dafür getan worden, das Land mit einem Mix aus staatlicher Planwirtschaft und Demokratie zu entwickeln. Sport sollte später kommen. Doch die Plan- wurde zu einer katastrophalen Misswirtschaft, die Wirtschaft lag darnieder. Sport verschwand vollkommen aus dem Blickwinkel der Politiker.

Daher müssten sich die meisten Sportler in Indien bis heute vollkommen selbst finanzieren. „Abhinav Bindra, der Schütze, der jetzt Gold geholt hat, hat auf einem Schießstand trainiert, den seine Eltern in ihrem Garten gebaut haben“, führt Mehta als drastisches Beispiel an. Daher könne sich an der Misere des Sports nur etwas ändern, wenn private Sonsoren Geld bereitstellten, was auch so langsam geschehe.

Doch es gibt Grund zur Hoffnung. In zwei Jahren richtet Indien die hoch angesehenen Commonwealth Games in seiner Hauptstadt Delhi aus. Bereits heute ziehen sich Großbaustellen für neue Sportstätten durch die gesamte Stadt. „Das könnte den Sport in Indien beleben“, sagt Sporthistoriker Mehta. Denn Indien lasse sich das Großereignis hunderte Millionen Dollar kosten.

„Doch es wäre besser gewesen, das Geld in die Basisarbeit zu stecken“, sagt Mehta abschließend. Sprich: Trainingsanlagen zu bauen und Sportprogramme im gesamten Land aufzustellen.

SASCHA ZASTIRAL