die lage am lago
: Vollrauschfressen

Die Schweiz ist schon schön, hat uns ein Freund gesagt, bevor wir aufgebrochen sind nach Tenero, du musst nur viel Geld mitnehmen, dann geht es dir gut. Weil wir aber nicht wirklich viel davon haben, haben wir nicht viel mitnehmen können. Wir streifen also am Tag des EM-Auftakts durch Locarno und suchen ein Café am See, ein billiges. Weil wir nicht glauben, dass es so etwas gibt, kehren wir erst mal nicht ein und zeigen der Schweiz, was Deutschlands Aufschwung so lange gebremst hat: die hässliche Fratze Konsumverweigerung.

AUS TENERO ANDREAS RÜTTENAUER

Rot angemalte Schweizer begegnen uns. Sie sind auf dem Weg zum Public Viewing auf der Piazza Grande. Sie sind gut gelaunt. Genauso wie die wenigen dreifarbig angemalten deutschen Fans, die zum Lago Maggiore gereist sind, um ihrem deutschen Team an dessen Trainingsort zu zeigen, dass es nicht alleine ist im Tessin. Weil wir unterschiedlicher Meinung darüber sind, welcher Weg uns wieder zurück zum deutschen Quartier führt, reden wir etwas lauter als sonst. Die deutschen Fans erkennen, dass wir Deutsche sind, strecken uns Fäuste entgegen und schreien mit ihren versoffenen Stimmen, so laut sie können: „Deutschland“. Wir finden das überhaupt nicht schön und können die Entscheidung des Teams, während dieser EM kein öffentliches Training zu veranstalten, mit einem Mal gut verstehen.

Wir schauen uns an und beschließen beinahe wortlos, alle fünfe gerade sein zu lassen und doch irgendwo auf einen Cappuccino einzukehren. Das Café, das wir wählen, ist wie so viele Orte in Locarno ein wenig unglücklich auf Fußball frisiert. Als der Kellner uns 3,30 Franken für den Kaffee abnimmt, fällt uns zunächst gar nicht auf, dass das gar nicht so teuer ist. Wir sind fasziniert vom Outfit des Obers. Er trägt ein Schiedsrichtertrikot. Ein Fan des Schwarzen Mannes? Oder einfach ein Schweizer Idealtypus und deshalb von Natur aus neutral? Zunächst finden wir das merkwürdig. Dann finden wir die Idee plötzlich faszinierend. Ach, wäre ein Fußballturnier friedlich, wenn es nur noch neutrale Fans gäbe. Was wir uns nämlich nicht vorstellen können: eine Horde schwarz bemalter Vollrauschfressen, die die Fäuste gen Himmel recken und jedem, der es nicht will, ins Gesicht brüllen: „Neutral!“