Die Ersten können die Letzten sein

Generalprobe für die Paralympics bei den Internationalen Deutschen Meisterschaften. Hier schwimmen Menschen mit verschiedenen Behinderungen gegeneinander. Am Ende muss jedoch nicht der gewinnen, der als Erster ankommt

„Im Training und beim Einschwimmen zähle ich meine Armzüge selbst mit, aber im Rennen geht das einfach zu schnell“

Ganz kurz vor dem Start des Finales über 100 Meter Freistil muss Daniela Schulte geduldig sein. Die 25-jährige Schwimmerin aus Berlin steht in Startposition auf ihrem Startblock. Doch es sind noch nicht alle Teilnehmerinnen an ihrem Platz. Eine Mexikanerin und eine Ukrainerin schwimmen vom seitlichen Beckenrand aus zu ihrer Startbahn. Sie starten direkt aus dem Wasser. Eine Spanierin sitzt auf ihrem Startblock. Daniela Schulte wirkt ruhig. Sie kennt diese Prozedur: Viele ihre Konkurrentinnen können nicht vom Startblock abspringen. Sie sind körperlich behindert. Schulte selbst verlor mit neun Jahren nach und nach ihr Augenlicht und ist heute vollkommen blind.

Die Internationalen Deutschen Meisterschaften in Berlin im Schwimmen waren am Wochenede die große Generalprobe für die Paralympischen Wettkämpfe in Peking im September. In der Schwimm- und Sprunghalle im Europa-Sportpark traten hunderte Schwimmer aus aller Welt und allen Schadensklassen gegeneinander an. Deshalb das seltsam anmutende Startprozedere: „Manchmal wundert man sich, wann es denn endlich losgeht“, erzählt Schulte. Im Freistil triumphierte sie über 800 und 200 Meter jeweils in Weltrekordzeit.

Die größte Schwierigkeit für die blinde Schwimmerin sind dabei die vielen Wenden. An beiden Seiten ihrer Bahn müssen Betreuer stehen, die Schulte wenige Meter vor Ende des Beckens kurz mit einem weichen Kontakt an einer Art Angelrute am Rücken berühren. „Da weiß ich: Jetzt sind es noch drei Armzüge bis zur Wende. Im Training und beim Einschwimmen zähle ich meine Armzüge selbst mit, aber im Rennen geht das einfach zu schnell“, erklärt Schulte.

Doch trotz ihrer Weltrekorde ist Schulte in Peking nicht unbedingt Favoritin auf Gold. Denn ihre Paradestrecken über 200 und 800 Meter stehen bei den Paralympics gar nicht auf dem Programm, sie kann nur in 50 und 100 Metern antreten. Grund sind die dreizehn „Schadensklassen“ für die verschiedenen Behinderungen. Würden alle Wettbewerbe in jeder Disziplin und jeder Schadensklasse ausgetragen, hätte man eine zeitlich und logistisch nicht durchführbare Masse an Wettbewerben, erklärt Matthias Ulm, Trainer von Schulte. Darum habe das Internationale Paralympische Komitees alle Schwimmdisziplinen über 100 Meter gestrichen. Außerdem würde bei all den Teilnehmern und Medaillengewinnern die Übersicht verloren gehen.

In Berlin traten deshalb die verschiedenen Schadensklassen gemeinsam an, und es wurde in jeder Disziplin nur ein Internationaler Deutscher Meister gekürt. Dafür mussten sich die Zuschauer an die eigene Dramatik der gemischten Rennen gewöhnen. Nicht diejenigen, die als Erste im Ziel anschlugen, waren die Sieger, sondern die Schwimmer, die in Relation zur Stärke ihrer Behinderung die beste Leistung erbrachten. Ein ausgeklügeltes Punktesystem stellte die Zeiten der unterschiedlich beeinträchtigen Schwimmer in vergleichbaren Punkten dar. Da geschah es mehrfach, dass die langsamsten Schwimmer aufgrund der Schwere ihrer Behinderung einen Wettkampf gewannen. Ulm, Schultes Trainer und zugleich Organisator der Meisterschaften, ist von dem System überzeugt: „Unser großes Ziel muss es sein, die Leistungen, die hier erbracht werden, einzuordnen und transparenter nach außen zu tragen.“

Im Finale über 100 Meter Freistil schlägt Schulte als Vierte an. Sie ist zufrieden, weil es „persönliche Bestzeit sein müsste“. Allerdings bleibt sie hinter einer Schwimmerin ihrer Schadensklasse, der Italienerin Cecilia Camellini, zurück, die in Peking zur großen Konkurrentin zu werden droht. Die Schnellste des Finales, eine noch eingeschränkt sehfähige Schwimmerin aus der Ukraine, ist nach der Bepunktung übrigens Letzte. JOHN HENNIG