LESERINNENBRIEFE
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Ach Denyo

■ betr.: „Diese Opferhaltung ist typisch deutsch“, taz vom 14. 4. 15

Ach Denyo. Früher warste linker Rapper bei den Absoluten Beginnern und jetzt haste es geschafft. Freut mich ehrlich für dich. Leider fällt dir jetzt, wo du erwachsen geworden bist, zur möglicherweise unglücklichen Kassiererin im Supermarkt nichts Besseres ein, als dass sie natürlich zu faul oder zu feige sein muss, um sich genügend selbst zu optimieren und mehr „Verantwortung“ zu übernehmen. Wenn du ganz leise bist, hörst du vielleicht Foucault in seinem Grab vor sich hin kichern: „Freiheit durch Selbstzwang? Das ist ja ’n Flash!“ Irgendwo muss die Kassiererin doch ein verwertbares Talent haben und kann eine erfolgreiche Unternehmerin werden, die dann so wie du 70 Stunden pro Woche arbeitet. Und schon gibt es nicht nur keine unglücklichen Kassiererinnen mehr, sondern gar keine Kassiererinnen sowie allgemein keine Menschen in beschissenen Jobs und auch keine Arbeitslosen, sondern nur noch glückliche Eigenunternehmer. Und wer’s nicht will oder nicht schafft, ist halt selbst schuld. Merkste was? Vielleicht, Denyo, ist ja nicht die Opferrolle so typisch deutsch, sondern die traurige Einfalt, mit der alle früher oder später demselben verlogenen Dogma folgen und ihre Unangepasstheit höchstens noch im Konsum ausdrücken können – ob man Gras oder Weber-Grills kauft, ist dann auch schon derbe egal.MICHAEL SCHÖFFSKI, Köln

Die Straße benutzen

■ betr.: „Radikale Gedanken fehlen“, Leserbrief von Michah Weissinger, taz vom 14. 4. 15

Wenn ich zum Einkaufen will, dann nehme ich mein Long John, ein großes, massives Lastenrad und ich parke im Einkaufszentrum auch ohne Weiteres auf einem (Auto-)Parkplatz. Ich bin Kunde, also darf ich so einen Parkplatz nutzen. Ellbogen sind in einer Ellbogengesellschaft halt manchmal vonnöten. Auch fahre ich mit dem Long John nicht entlang des Rinnsteins oder auf zugesperrten Radwegen. Ich bin Steuerzahler und Verkehrsteilnehmer, also darf ich auch die Straße benutzen. ARNE MATSCHINSKY, Hamburg

Wichtige Rekonstruktion

■ betr.: „Links des Möglichen“, taz vom 14. 4. 15

Micha Brumliks „Besprechung“ des Buchs von Sebastian Voigt „Der jüdische Mai ’68“ kommt einem Verriss gleich und schadet dieser so wichtigen Rekonstruktion linker jüdischer „Existenz“ in den antifaschistischen und revolutionären Bewegungen und Kämpfen dreier jüdischer „Familien“ im letzten Jahrhundert. Die Fokussierung auf die drei bekannten (damaligen) Genossen des Pariser Mai: Pierre Goldman, Dany Cohn-Bendit und André Glucksmann konfrontiert jüdische und nichtjüdische Leser/innen mit Aspekten und Problemen dieser „Existenz“ und dieses „Mai“ in einer Weise, die erschüttert und Fragen an sich selbst stellen lehrt, also aufklärt … Es wäre sehr wünschenswert, wenn dieses Buch angemessen besprochen und aufgenommen werden würde.

Wenn Brumlik im ersten Satz der Besprechung schreibt, dass der Pariser Mai 68 die (vorerst) letzte Revolution in Westeuropa gewesen sei, dann irrt er. Das war die Revolution in Portugal 1974/1975, die die politischen und sozialen Machtverhältnisse eines ganzen Landes radikal veränderte, zwar nicht ganz in dem Sinne, wie viele Revolutionäre das damals wünschten, aber zweifellos so, wie sie die Mehrheit der Bevölkerung – nach 48 Jahren faschistischer Diktatur! – wollte. INES LEHMANN, Berlin