Europa schottet sich ab

EU-GIPFEL Erhoffte Kehrtwende in der Flüchtlingspolitik bleibt aus. NGOs: Programm zur Sterbebegleitung

VON CHRISTIAN JAKOB

Um wirklich jedes Missverständnis auszuräumen, hatte der Frontex-Chef Fabrice Leggeri es am Mittwoch noch einmal im britischen Guardian zu Protokoll gegeben: „Triton kann keine Such- und Rettungsoperation sein. Das ist nicht unser Mandat.“ Die EU-Grenzschutzbehörde ist zum Grenzenschützen da und keine Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger – das ist die simple Wahrheit.

Bis nach Brüssel drang sie nicht: Einen Tag später trafen sich dort die EU-Staats- und -Regierungschefs. Sie beschlossen ein Sofortprogramm zur „Verhütung weiterer Lebensverluste auf See“. Dessen Kern: eine Verdreifachung des Budgets der Frontex-Operation Triton auf 9 Millionen Euro im Monat. Genau so viel hat Italiens Seerettungsmission Mare Nostrum gekostet. Die wurde eingestellt, weil die EU nicht dafür bezahlen wollte. Die Italiener patrouillierten bis an die libysche Küste, Frontex soll sich – anders, als die Kommission am Dienstag ankündigte – weiter auf die italienischen Gewässer beschränken. Außerhalb dieses Gebiets müssen Schiffbrüchige darauf hoffen, dass die völlig überlasteten Küstenwachen Italiens und Maltas ausrücken – ohne Unterstützung Europas.

Viele hatten nach der entsetzlichen Zahl von Opfern in den vergangenen Tagen auf eine Kurskorrektur gehofft. Das Gegenteil ist eingetreten: Die EU verfolgt das Programm der Abschottung entschiedener als zuvor. Staaten wie Sudan, Mali und Niger will sie Geld bezahlen, damit diese Flüchtlinge schon tief in Afrika aufhalten. Programme zur Zusammenarbeit bei der Migrationskontrolle im Sahel gibt es schon seit einigen Jahren – nun sollen sie intensiviert werden. Eine militärische Mission soll gegen Schlepper in Libyen vorgehen – wie genau, ist unklar. Großbritannien, Frankreich und Deutschland wollen Kriegsschiffe ins Mittelmeer verlegen.

Die Beschlüsse wurden von vielen Organisationen äußert kritisch aufgenommen. Von einem „Programm zur Sterbebegleitung“ sprach Karl Kopp von Pro Asyl. „De facto wurde den Flüchtlingen einmal mehr der Krieg erklärt“, befand Ramona Lenz von medico international. „Der Beschluss ist ein weiteres Aussitzen der humanitären Katastrophe und wird in den nächsten Monaten viele weitere Menschenleben kosten“, sagte Selmin Çalıkan, die Generalsekretärin von Amnesty International in Deutschland. „Der Fokus bleibt darauf gerichtet, die Grenzen zu schützen, statt jene zu retten, die beim Versuch, diese Grenzen zu erreichen, sterben“, sagte Human-Rights-Watch-Direktor Kenneth Roth. „Menschenleben zu retten hat für die EU keine Priorität“, befand Aurélie Ponthieu von Ärzte ohne Grenzen.

Ähnlich äußerten sich Oppositionspolitiker. „Dass nun Frontex für das Retten von Menschenleben zuständig sein soll, ist fahrlässig. Flüchtlinge sind für Frontex in erster Linie eine Bedrohung, die abgewehrt gehört“, sagte die Grüne EU-Parlamentarierin Barbara Lochbihler. Die Linken-Bundestagsabgeordnete Ulla Jelpke glaubt nicht, dass die Zahl der Migranten gesenkt werden kann: „Die Not, vor der sie fliehen, ist größer als ihre Sorge vor den Risiken der Überfahrt nach Europa“, sagte sie.

In den Tagen vor den Gipfel hatten NGOs vielfach gefordert, Flüchtlingen in Nordafrika Visa auszustellen, damit diese mit Fähren kommen können. Ersatzweise müsse es zumindest eine effektive Rettungsmission bis in libysche Gewässer geben. Am Mittwoch wird das EU-Parlament über die Situation im Mittelmeer und den Gipfel beraten. 60 Abgeordnete haben in einem offenen Brief an Parlamentspräsident Martin Schulz angekündigt, dem EU-Haushalt nicht zuzustimmen, wenn es keine Mittel für humanitäre Seenotrettung gibt.

Reportage SEITE 8, 9

Argumente SEITE 10, 11