Im Zeichen des schwarzen Turbans

Die afghanische Stadt Kandahar ist derzeit wegen der Entführung eines indischen Flugzeugs in den Schlagzeilen. Hier sitzen die Taliban fest im Sattel. Die Menschen haben sich arrangiert, Kritik wird allenfalls leise geäußert ■ Von Thomas Ruttig

Kandahar hat den wohl staubigsten Fußballplatz der Welt. Im Schein der letzten Sonnenstrahlen an diesem Abend Mitte Dezember kickt auf einer verdorrten Grasfläche vor Afghanistans Oberstem Gericht ein Dutzend junger Afghanen einen Lederball, der früher einmal rund gewesen sein muss. Sie tragen Käppis und lange paschtunische Hosen – ein unbedecktes Haupt und Shorts verbietet die Islam-Auslegung der Taliban.

Wegen mächtiger Staubschwaden, die über den Platz ziehen, sieht man nur die Konturen der Spieler. Im nahen Stadion wollen sie nicht spielen. Das war vor ein paar Jahren zwar von einer einheimischen Nichtregierungsorganisation als eine der raren Freizeitstätten der Stadt wieder hergerichtet worden, aber die afghanischen Ultra-Islamisten nutzen es für Veranstaltungen, die wenig mit Sportsgeist zu tun haben und ihre Herrschaft durch Abschreckung untermauern sollen: zu öffentlichen Exekutionen und Bestrafungen von Dieben in Form von Amputationen.

Kandahar, das ist die Hauptstadt der Islamischen Bewegung der Taliban, wie sie sich selbst nennen. Von hier aus starteten sie Ende 1994 ihren Feldzug, der ihnen bis heute die Kontrolle über etwa neun Zehntel des Landes sicherte. Seither ist Kandahar faktisch wieder das, was es zwischen 1747 und 1772 unter dem afghanischen Staatsgründer Ahmad Schah Durrani war: die Hauptstadt des Landes. In Kandahar hat Taliban-Chef Mullah Omar Wohnsitz und Büro. Hier, nicht in der nominellen Kapitale Kabul, fallen die Entscheidungen. Hierher kommen alle, die ihn sprechen wollen.

Die Staubfahne, die die jungen Kandaharer Fußballer einhüllt, stammt vom Durchgangsverkehr auf der meistbefahrenen Straße des Landes. Die Route von Kabul nach Herat im Westen, die auch Pakistan mit Iran verbindet, führt mitten durch die Stadt, die vor dem Krieg 125.000 Einwohner hatte und wohl auch jetzt nicht viel mehr. Unmittelbar neben dem Fußballplatz wälzen sich hoch beladene Trucks, die schwarze Rauchschwaden ausstoßen, gelb-weiße Taxis, die in Deutschland durch keinen TÜV kämen, hupende dreirädrige Motorradrikschas und Pferdekarren über eine ausgefahrene Sandpiste.

Die parallele Asphaltstraße, die beste der Stadt, ist gesperrt, seit dort am 24. August ein mit mehreren Tonnen Sprengstoff beladener Lkw in die Luft flog, direkt vor dem Wohnhaus Mullah Omars. Eine Taliban-übliche Straßensperre hindert heute selbst Fußgänger daran, die Residenz des öffentlichkeitsscheuen Taliban-Oberhaupts zu passieren: ein Seil mit ein paar bunten Lappen, quer über die Straße gespannt. Kalaschnikows und ihr Markenzeichen, die schwarzen Turbane, reichen aus, um Neugierige abzuschrecken.

Wer und wie viele bei dem Anschlag umkamen, ist bis heute unklar. Nur vier Mitglieder von Omars Familie hätten überlebt, hört man auf dem Basar, der traditionellen Nachrichtenbörse. Denn Zeitungen und Rundfunk verbreiten hier keine wirklichen Informationen, und Fernsehen ist aus religiösen Gründen verboten. Die einzige Quelle sind ausländische Rundfunksender. Und Gerüchte.

Die meisten seiner drei Frauen und Kinder seien unter den Opfern, lautet eines. Der Mullah habe den Raum gerade verlassen, als die Bombe hochging, und nur deshalb überlebt, ein anderes. Ein drittes: Seine halbe Leibwache sei getötet worden, als sie versuchte, den Truck noch im letzten Moment wegzufahren.

Die Straßensperre, erzählt ein Lehrer, der sich als Händler durchschlägt, soll verhindern, dass das ganze Ausmaß der Schäden bekannt werde. Das scheint zu stimmen, denn am Büro Mullah Omars in der Innenstadt kann man ungehindert vorbeigehen. „Seit dem Anschlag betritt Mullah Omar auch die Rote Moschee nicht mehr“, weiß er, die gleich an der nächsten Straßenecke steht und nach ihrem untypisch kirchturmroten Kuppeldach so heißt. Und an der Ausfallstraße Richtung Südwesten, wo es zum Baba-Saheb-Pass hinaufgeht, entsteht ein neuer Wohnkomplex für Mullah Omar, zeigt ein Taxifahrer. Große Mühe, das geheim zu halten, geben sich die Taliban allerdings nicht.

Auch wer hinter dem Anschlag steckt, ist bis heute nicht bekannt. Den Taliban fehlen die Mittel und wohl auch die Kompetenz für eine wirkliche Untersuchung. So vermuten sie einen Racheakt Irans, mit dem man im Sommer 1998 beinahe in einen neuen Krieg geschliddert wäre, nachdem Taliban-Kämpfer im nordafghanischen Masar-e Sharif – angeblich ohne Befehl von oben – neun iranische Diplomaten und einen Journalisten umbrachten. Deshalb seien ein paar Afghanen verhaftet worden sein, die aus Iran gekommen seien, erzählt ein anderer Kandahari, der wie alle anderen seinen Namen nicht gedruckt sehen will.

Die Stadt ist ein Zentrum der Paschtunen

In Iran leben noch immer 1,4 Millionen Flüchtlinge in sieben Lagern. Außerdem suchen jeden Winter viele Afghanen Arbeit im westlichen Nachbarland. Vor allem Hazara, Angehörige einer schiitischen Minderheit, die von Teheran unterstützt wird. Deshalb haben die Taliban alle Hazara aus dem Zentrum Kandahars vertrieben. „Bis heute durften sie nicht in ihre Häuser zurückkehren“, sagt der Kandahari empört.

Trotzdem sind Ablehnung oder gar Widerstand gegen die Taliban kaum zu spüren. Während in Kabul allerorten Kritik geübt wird, wenn auch hinter vorgehaltener Hand, sitzen die Taliban hier fest im Sattel. Denn Kandahar ist auch ein Zentrum der Paschtunen, jener ethnischen Gruppe, auf die sie sich vor allem stützen können. Mit ihren charakteristischen Turbanen, die jeder der hunderte von Stämmen auf seine Weise bindet, bestimmen sie das Straßenbild.

Von vielen Angehörigen von Minderheiten – Tadschiken, Usbeken, Hazara – werden die Taliban deshalb als Bewegung zur Wiederherstellung der Macht der Paschtunen angesehen, die von 1747 an bis zum Sturz 1973 das Königshaus stellten. Dabei hören die Taliban das gar nicht gern. „Wir haben uns zum Ziel gesetzt, in Afghanistan die islamische Ordnung wieder zu errichten“, sagt der kaum 30-jährige Taliban-Sprecher Abdulhai Mutmain in seinem Büro im halb zerstörten Gebäude von Radio Kandahar. „Wir sind die Vertreter aller Afghanen“, betont er.

Das eigentliche Zentrum Kandahars, gleich gegenüber von Mullah Omars Hauptquartier, ist die Moschee Kherqa-ye Mubarak – „Gesegnetes Hemd“. Diese Reliquie soll einst dem Propheten Muhammad gehört haben und wird in einem stoffverhangenen Schrein in dem reich mit Mosaiken verzierten Bauwerk aufbewahrt.

Ahmad Schah Durrani, ein paschtunischer Stammesführer, der als afghanischer Staatsgründer gilt und gleich daneben sein Grabmal hat, habe sie von einem seiner Raubzüge aus Buchara mitgebracht. Mullah Omar, so heißt es, habe sich die Kherqa als Zeichen seiner religiösen Legitimation umgehängt, nachdem ihn eine Versammlung islamischer Geistlicher 1997 zum Amir ul-Mumenin – zum „Oberhaupt der Gläubigen“ – ernannt hatte. Auch mit dem Bezug auf Ahmad Schah stellt er sich in die Tradition der paschtunischen Vorherrschaft in Afghanistan.

Täglich zieht das wunderbare Gewand zahlreiche Kandaharer an, die auf dem Vorplatz des Heiligtums ein Gebet verrichten. Donnerstags und freitags, am islamischen Wochenende, wenn das Bauwerk für den Publikumsverkehr geöffnet ist, strömen dort tausende zusammen.

Mit dem Grabmal Ahmad Schahs und dem benachbarten Schrein haben sich die Taliban große Mühe gegeben. Der Bau erstrahlt in frischen, wenn auch für das europäische Auge nicht immer harmonischen Blau- und Türkistönen. Direkt neben dem Eingang, gut sichtbar über Augenhöhe angebracht, prangt eine weiße Marmortafel: „Im Namen Allahs, des Barmherzigen, des Allerbarmers“ habe Mullah Omar in den Jahren 1374/75 hiesiger Zeitrechnung (1995/96) den Bau restaurieren lassen. Der Krieg, der seit dem Eimarsch sowjetischer Truppen zu Weihnachten 1979 tobt, war auch an dem Bauwerk nicht spurlos vorbeigegangen. Aber der Renovierungseifer der Taliban reicht nicht sehr weit. Nur einmal um die Ecke häuft sich eine riesige, übel riechende Müllkippe direkt an der Außenmauer des afghanischen Nationalheiligtums.

Wer Geld hat, zieht ein Leben im Ausland vor

Der mangelnde Eifer der Taliban, sich solchen und ähnlichen sozialen und wirtschaftlichen Missständen anzunehmen, kostet sie langsam ihr Ansehen, das ihnen seit 1994 große Sympathie bei weiten Teilen der Bevölkerung eingebracht und und damit zur Macht verholfen hatte. Zwar wird in der Stadt viel gebaut. Aber das ist entweder private Initiative oder Nichtregierungsorganisationen zuzuscheiben.

Noch immer sind die Ruinen, die die sowjetische Besatzungszeit und der anschließende Krieg zwischen den siegreichen Mudschaheddin hinterlassen haben, überall zu sehen. Auch unter den wenigen Intellektuellen, die Kandahar nicht verlassen haben, hört man das Urteil, das überall über die Taliban gefällt wird: Sie seien ungebildet und könnten keinen Staat führen.

Das mischt sich mit alten Vorurteilen: Schon vor dem Krieg galten die Kandaharis bei den anderen Afghanen als Hinterwäldler.

Da hilft es dem Ruf der Taliban auch nicht, wenn hier – im Gegensatz zu anderen Städten – die Stromversorgung meistens funktioniert, die Stände auf dem Basar reichlich gefüllt sind, dutzende qualmende Ziegelöfen einen Bauboom andeuten und sogar ein Teil der Textilfabrik wieder arbeitet.

Die Kandaharis haben sich arrangiert mit den neuen Herren. Die Masten an der Stadtausfahrt, an denen immer noch die Bänder beschlagnahmter Tonkassetten im Wind wehen, nehmen sie kaum noch war. Mechanisch schalten Autofahrer die Musik aus und verstecken die verbotenen Tonträger, wenn sie sich solch einer Sperre nähern.

In der Stadt dominieren inzwischen ohnehin zugewanderte Landbewohner, die an den drastischen Bestimmungen der Taliban wenig auszusetzen haben. Ihr Leben hat sich dadurch kaum verändert. Wer Geld hat, auch die reichen Händler, die – neben den Golfstaaten – die Taliban finanzieren, weil Ruhe und Ordnung gut fürs Geschäft sind, zieht es vor, im Ausland zu leben. Dort kann man auch seine Töchter zur Schule schicken.

Inzwischen laufen auch viele einfache Kandaharis mit dem schwarzen Turban der Taliban herum. Sie machen aus dem Zwang, dass die Taliban das Tragen von Turbanen – und Bärten – zur religiösen Pflicht erklärt haben, eine Hoffnung: unbehelligt ihres Weges gehen zu können, wenn man das Erkennungsmerkmal der gefürchteten Krieger trägt. Und so kommentiert ein Afghane: „Ein Land baut man nicht mit dem Bart auf, sondern mit dem Kopf.“