Das Geschäft mit den Flüchtlingen profitiert vom libyischen Chaos

Noch nie war es so gefährlich, von Libyen in die EU zu fliehen. Doch weil der Bürgerkrieg weiter eskaliert, gibt es vor Ort kaum jemanden, der die Schmuggler aufhalten kann

Inhaftiert in Libyen: Flüchtlinge im September 2018 Foto: Mohame Ben Khalifa/ap

Von Mirco Keilberth, Tunis

Der Massenmord vor der libyschen Küste findet unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Schmuggler transportieren ihre menschliche Ware nachts an die Verstecke an den Stränden: Hunderte Farmen und Villen, sogenannte „Ghettos“, die von Mafianetzwerken aus den jeweiligen afrikanischen Heimatländern betrieben werden. 690.000 Migranten befinden sich nach Angaben der Internationalen Organisation für Migration (IOM) zurzeit in Libyen, nur wenige wollen bleiben.

Die Chance, es in einem Schlauchboot lebend nach Italien zu schaffen, ist allerdings drastisch gesunken, seitdem Libyen die Seenotrettungszone, in der die eigene Küstenwache zuständig ist, auf 70 Kilometer ausgeweitet hat und weiter draußen die private Seenotrettung wegen der harten Haltung Europas nicht mehr funktioniert. Noch nie ertranken nach Berechnungen von Hilfswerken proportional so viele Migranten im Mittelmeer wie seit der Schließung der italienischen Häfen für Retter.

Die Freiwilligen des libyschen Roten Halbmondes in der Hafenstadt Zauwia, 40 Kilometer westlich von der Hauptstadt Tripolis gelegen, schätzen, dass jede Nacht dennoch zehn Boote von dem Küstenstreifen zwischen Tripolis und Zuwara ablegen. Offizielle Angaben dazu gibt es nicht, da die Küstenwache nur noch selten hinausfährt. „Viele der Marinesoldaten erhalten Drohungen von den Schmugglern, aber auch von Freunden oder Verwandten“, sagt der Journalist Taher Zaroog aus Misrata. „Sie riskieren bei den Rettungsaktio­nen ihr Leben, doch niemand will die Schwarzafrikaner in Libyen. Und es steigen auch immer mehr einheimische junge Leute in die Boote, weil sie die Hoffnung auf Frieden aufgegeben haben.“

Trotz der deutlich gestiegenen Risiken: Die Migrationsroute aus Westafrika ans Mittelmeer, aus der Metropole Lagos in Nigeria über Agadez im Niger bis in die libyschen Küstenorte Zauwia, Garabulli und Zuwara, floriert wieder. Das liegt auch daran, dass die Einheitsregierung unter Übergangspremierminister Fayez Serraj in der libyschen Hauptstadt Tripolis, formell der Partner der EU bei der Abwehr von Flüchtlingen, so schwach ist wie nie.

Wochenlang wurde im September um die Hauptstadt erbittert gekämpft; eine von den Vereinten Natio­nen vermittelte Waffenruhe nützen sowohl die Milizen der Einheitsregierung als auch ihre Gegner jetzt dazu, neue Waffen und Truppen aus anderen Landesteilen heranzuholen. Der nächste Krieg um Tripolis steht bevor, obwohl der bedrängte Serraj durch eine Kabinettsumbildung versucht, den Radikalen entgegenzukommen.

Seine Ernennung eines neuen Innenministers, Fathi Bashaga, führte allerdings zu Empörung unter der moderaten Zivilgesellschaft. Ba­shaga, Milizenkommandeur aus der faktisch autonomen Hafenstadt Misrata, hatte zwei Jahre lang den Transport von Waffen für radikale islamistische Kämpfer des „Islamischen Staates“ (IS) und der Gruppe „Ansar Scharia“ organisiert, die in Ostlibyen mit Terror und Mordkommandos nach der Macht griffen. In Tripolis droht nun ein ähnlicher Zermürbungskrieg. Viele Milizen Westlibyens nutzen dieses Machtvakuum, um den Menschenschmuggel, das lukrativste Geschäft in Afrikas ölreichstem Land, wieder aufleben zu lassen.

„Den Kämpfen um Tripolis mit über 110 Toten ist auch die EU-Migrationspolitik zum Opfer gefallen“, sagt eine italienische Migra­tionsexpertin, die an der libyschen Küste für eine internationale Organisation arbeitet. Ihren Namen möchte sie nicht veröffentlicht sehen, um ihre Arbeit mit den verschiedenen Milizen nicht zu gefährden, die die Flüchtlingscamps an dem 300 Kilometer langen Küstenstreifen bewachen, von dem fast alle Boote nach Europa ablegen.

Die von der EU mitfinanzierte libysche Küstenwache, die der Einheitsregierung untersteht, hat in den vergangenen 11 Monaten über 13.000 Menschen von Booten auf dem Mittelmeer gerettet und in die 12 Lager gebracht, die libysche Behörden für Migranten und Flüchtlinge eingerichtet haben. Es sind oft nur Fabrikhallen oder leere Schulen.

Der Mangel an Duschen, Wasser und die schlechte Nahrung führen zu Hautkrankheiten und Unterernährung, sagen Helfer, die zu den Lagern Zugang erhalten. Seit den Kämpfen habe sich die hygienische Lage noch einmal dramatisch verschlechtert, zwei Wochen lang war Tripolis von der Wasserversorgung komplett abgeschnitten. Die Gefängnisse in den Bezirken Abu Salim und Saledine wurden von Granaten und Raketen getroffen.

So stockt auch das internationale Programm der Rückführung von Migranten in ihre Heimatländer südlich der Sahara. Von den 13.000 auf dem Mittelmeer Geretteten konnte das UNHCR nur 1.200 evakuieren. Daher machen sich viele jetzt erst recht auf den Weg von Tripolis in die umliegenden Küstenorte – auf den Weg ins Ungewisse. „Die EU“, sagt die Italienerin, „macht sich der unterlassenen Hilfeleistung schuldig.“