Kolumne Die eine Frage: Zukunft ist nicht mehrheitsfähig

Der Aufbruch, den der französische Präsident anstrebt, wird nicht als Aufbruch aller verstanden. Was bedeutet der Fall Macron über Frankreich hinaus?

Emmanuel Macron hinter Fahnen

In Bedrängnis geraten auf dem Weg zu einem neuen Europa: Emmanuel Macron Foto: Reuters

Für die linkssozialdemokratischen Deutungsbesitzstandswahrer ist die Sache mit Macron klar: neoliberale Sau. Das haben sie schon immer gewusst, wie sie alles schon immer gewusst haben. Ok. Lassen wir so stehen. Und wagen einen komplementären Gedanken: Dies sind Umbruchzeiten, in denen man nichts mehr schon immer wissen kann.

Der Protest gegen den französischen Präsidenten macht die neue Polarisierung der Bürger sichtbar, die tatsächlich nicht zwischen „links“ und „rechts“ stattfindet, sondern zwischen drinnen und draußen. Der Aufbruch, den Macron anstrebt, wird nicht als Aufbruch aller verstanden, sondern als einer von Gewinnern, zu denen man selbst nicht gehört. Auf der anderen Seite stehen Franzosen, die sich abgehängt fühlen von der Welt und von den Entscheidungen. Der deutsche Föderalismus hat einfach auch seine Vorteile.

Macron mit seiner überragenden Intelligenz, Belesenheit, Risikobereitschaft und inszenierten Aura speist bei den einen das großartige Gefühl, dass hier noch eine ganze Menge geht – und bei anderen die Gekränktheit, die Wut, das Selbstmitleid und den Hass.

Ein neues Europa

Jetzt muss man sehen, dass Macrons anvisierter Aufbruch Richtung neues Europa und neuer wirtschaftliche Kraft von einem Viertel der Bürger gewählt wurde. Die restlichen 40 Prozent kamen im zweiten Wahlgang, als es Macron oder Le Pen hieß. Der Präsident will also die Absolute Power des überkommenen Präsidialsystems nutzen, um radikale Politik zu machen, obwohl er keine Mehrheit dafür hat. Das hält die Gesellschaft nicht aus. In Baden-Württemberg wiederum regieren die Grünen mit dem Juniorpartner CDU, wodurch die Weltbürger-Provinz Kompromisse ins Regieren eingepreist sind. Da mosern die Progressiven zu Recht, dass zu wenig vorankomme. Tja.

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So wird in Frankreich das passieren, was auch bei der CDU, der SPD und jedem flachhierarchischen Verbund passiert, dem die Gegenwart wegrutscht. Therapie. Man redet über sich selbst. Das klingt jetzt zynisch, ist aber Hilflosigkeit. Die Gegenwartsinteressen aller Stakeholder zu verhandeln, ist das Gebot der Stunde. Was habe ich von CO2-Verminderung, wenn ich den Sprit nicht bezahlen kann, um wenigstens zur mies bezahlten Arbeit zu kommen?

Gleichzeitig steckt hinter der faireren Verteilung der Gegenwart das Ende der Zukunft. Corbyn funktioniert nur als Brexit-Profiteur. Die SPD zerbricht, weil sie Weltbürger und Kleinbürger nicht mehr zusammenkriegt. Jetzt droht auch die Post-Merkel-Union zu zerbröseln.

Kein radikaler Realismus

Das alles könnte bedeuten, dass man zwar noch eine Weile eine demokratische Mehrheit gegen den autoritären Angriff zusammenbringt, aber zu unseren Lebzeiten keine für jenen radikalen Realismus, mit dem der Grüne Bundesvorsitzende Robert Habeck die zentralen Probleme angehen wollen würde. Habeck ist in breiten Teilen der Gesellschaft ungewöhnlich beliebt, aber sobald er ernsthaft über Zukunftspolitik spricht, wie bei seinem Testversuch Grundeinkommen, ist auch Schluss mit lustig. Wann immer du offensiv und pathetisch Aufbruchbereite um Dich scharst, stärkst du gleichzeitig den Widerstand derer, die – zu Recht oder zu Unrecht – davon ausgehen, dass sie selbst keine Zukunft haben.

Zukunft ist in diesem Moment nicht demokratisch mehrheitssfähig. Fatal. Aber noch fataler: Ohne Zukunft keine Demokratie. Wenn wir die Zukunft nicht angehen, dann machen sie die autoritären Chinesen und das soziophobe Silicon Valley allein. Sie tun es längst, während wir hier sprechen.

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Chefreporter der taz, Chefredakteur taz FUTURZWEI, Kolumnist und Autor des Neo-Öko-Klassikers „Öko. Al Gore, der neue Kühlschrank und ich“ (Dumont). Bruder von Politologe und „Ökosex“-Kolumnist Martin Unfried

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