Die Matroschka im Bundestag

„Scheiße“, dachte sie, als Müntefering nach der Niederlage in NRW Wahlen ankündigte„Ich bin jungfräulich und idealistisch in die Demokratie gegangen, wie viele in der DDR“

AUS CHEMNITZ UND BERLIN BARBARA BOLLWAHN

Es gibt Menschen, die entscheiden mit dem Kopf und dem Verstand. Andere lassen sich von ihren Gefühlen leiten. Jelena Hoffnung gehört zu denen, die das tun, was ihnen der Bauch sagt. Ganz in Rosa gekleidet sitzt sie in ihrem Büro in Chemnitz, eine 58 Jahre alte Sozialdemokratin, Mitglied des Deutschen Bundestages. Der Klang ihrer Sprache irritiert ein wenig. Sächsischer und russischer Akzent zugleich. Noch überraschender ist ihr Ausdruck. Wenn es ihr passend erscheint, sagt Jelena Hoffmann „Mein Fresse“, öfters sagt sie auch „Scheiße“.

Jelena Hoffmann ist die einzige Abgeordnete, die aus Russland stammt. Sie gehört seit 1994 dem Parlament an, aber im Rampenlicht stand sie nie. Mittelstandsförderung, Zuwanderungspolitik, später wurde sie Vorsitzende der Deutsch-Ukrainischen Parlamentariergruppe. Bekannt wurde sie erst durch den Visa-Untersuchungsausschuss, in dem sie Joschka Fischer durch ihre harmlosen Fragen ein paar Atempausen verschafft hatte. Einige Wochen später flimmerte sie zum zweiten Mal über die Fernsehschirme der Republik: Jelena Hoffmann hat angekündigt, vor das Verfassungsgericht zu ziehen, falls der Bundespräsident in dieser Woche das Parlament auflöse.

„Scheiße“ sei das erste Wort gewesen, das ihr in den Sinn kam, als Franz Müntefering nach der Wahlniederlage in Nordrhein-Westfalen plötzlich von Neuwahlen sprach. „Der Hammer“ war für sie die Sitzung des Parteivorstands, dem sie seit knapp einem Jahr angehört. Müntefering appellierte an die Genossen, sich bei der Vertrauensfrage zu enthalten. „Franz, habe ich zu ihm gesagt, vielleicht reichen meine grauen Zellen nicht aus. Aber ein Misstrauen so auszusprechen, dass durch das Enthalten das Vertrauen entzogen wird, das verstehe ich nicht.“ Müntefering habe sie angeschaut und gesagt „Ja, Jelena, das ist der einzige Weg.“ Jelena Hoffmann lässt ihre Worte einige Sekunden nachhallen. „Das war der Moment“, sie haut mit beiden Händen auf den Tisch, dass es knallt, „in dem ich die Welt nicht mehr verstanden habe.“ Bei der Vertrauensfrage am 1. Juli sprach sie dem Kanzler ihr Vertrauen aus. In einer persönlichen Erklärung sagte sie, dass der Weg zu Neuwahlen aus ihrer Sicht nur aus parteitaktischen Gründen gewählt wurde. „Das widerspricht meinen moralischen und verfassungsrechtlichen Überzeugungen.“

Kritiker unterstellen ihr, ihr gehe es darum, ihr Mandat bis 2006 zu behalten. „Die das sagen, gehen von ihren eigenen Vorstellungen aus“, sagt Hoffmann. Bevor man so über sie urteile, solle man sich ihre Motive anhören.

Eigentlich hatte Jelena Hoffmann vor der letzten Wahl erklärt, dass ihre dritte auch ihre letzte Legislaturperiode sein würde. „Ich halte nichts von Berufspolitikern.“ Aber angesichts der angestrebten Neuwahlen und ihrer Angst, die SPD könnte den Wahlkreis, den sie einmal über einen Listenplatz und zweimal mit einem Direktmandat gewonnen hat, verlieren, wollte sie erneut antreten. „Ich bin Parteisoldatin“, sagt sie und händigt die Kopie eines Briefes aus, den sie Anfang Juni an die Chemnitzer Genossen geschrieben hat.

Darin erklärt sie, dass sie durch die Aufforderung vieler Sozialdemokraten, Organisationen und Unternehmer, erneut zu kandidieren, in einen Konflikt zu ihrer damaligen Ankündigung geraten sei und dass sie ihre Glaubwürdigkeit nicht leichtfertig aufs Spiel setzen wolle. „In schwierigen Zeiten auf das Bewährte zurückzugreifen liegt nahe, wenn das Bewährte positive Ergebnisse gebracht hat.“

Doch die Chemnitzer Parteispitze will sie nicht. „Sie wurde 2002 nur aufgestellt, weil sie sagte, dass es ihre letzte Legislaturperiode ist“, sagt der Stadtverbandsvorsitzende Sven Schulze. Er attestiert Jelena Hoffmann „eine gewisse Hartnäckigkeit, die der Stadt und der Partei etwas gebracht hat“. Doch im politischen Umgang sei sie „schwierig und wenig konsensorientiert“. Nach der Ankündigung, gegen vorgezogene Wahlen zu klagen, hat ihr Schulze vorgeworfen, sich nur profilieren zu wollen. Wenn Jelena Hoffmann nur daran denkt, muss sie tief Luft holen, um nicht die Fassung zu verlieren. Sie weiß, dass sie keine bequeme Person ist. „Ich mag eckige Tische, weil ich immer anecke.“ Den Chemnitzer Genossen wirft sie vor, „hinter dem Rücken und unter der Gürtellinie“ zu agieren. Sie klingt verletzt und enttäuscht.

Jelena Hoffmann kommt aus einer anderen Welt nach Chemnitz. 1975 zieht die gebürtige Moskauerin nach Chemnitz, das damals noch Karl-Marx-Stadt hieß. Sie hatte sich an dem Moskauer Institut, an dem sie Halbleitertechnologie und Festkörperphysik studierte, in einen Sachsen verliebt, der dort promovierte. „Mein Mann wollte eine Holzmatroschka kaufen. Aber als ordentlicher DDR-Bürger hatte er keine Valuta. Da sagte er, dann nehme ich eine Lebende mit.“ Die lebende Matroschka lebt mit ihrem Mann in einer Plattenbauwohnung. Sie arbeitet als Ingenieurin in einem Betrieb, in dem es russischsprachige Kollegen gibt. Sie lernt in der Klöppelgruppe des Kombinats die komplizierte Handarbeit aus dem Erzgebirge. Sie nimmt die Sprache an, die sie hört. Sie bekommt drei Kinder.

1991 tritt Jelena Hoffmann, die weder in Russland noch in der DDR einer Partei angehörte, in die SPD ein. Eine Bauchentscheidung. „Ich sagte zu meinem Mann, jetzt lohnt es, sich gesellschaftlich zu engagieren.“ Drei Jahre ist sie Sozialdemokratin, als sie in den Bundestag katapultiert wird. Die Chemnitzer Genossen suchen verzweifelt eine Frau, die für den Bundestag kandidiert und fragen sie. Jelena Hoffmann fasst sich an den Kopf, so wie sie es damals getan hat. „Ich war ein stinknormales Ortsvereinsmitglied und habe die Karriereleiter nicht mal angefasst!“ Sie nimmt die Herausforderung an.

„Ich bin sehr jungfräulich und idealistisch in die Demokratie gegangen, wie viele in der DDR. Wir glaubten, Berge versetzen zu können“, sagt sie. Ziemlich schnell fand sie sich in einem tiefen Tal wieder. „Wir konnten hoch und runter hüpfen, wie wir wollten, als Opposition konnten wir nichts verändern.“ Mit der Zeit hat sie gelernt, sich damit zu arrangieren. „Wenn ein Antrag gut war, hat ihn die Regierung ein halbes Jahr später umgeschrieben.“ Auch von der Zeit an der politischen Macht ist sie enttäuscht. „Es gelingt uns nicht, den Menschen Horizonte zu zeigen.“

Zu Hause in ihrem Wahlkreis spürte sie mit der Zeit, wie einigen ihr Sprung in den Bundestag nicht passte. „Ich habe mich integriert, aber ich sollte mich assimilieren“, sagt Jelena Hoffmann. Der SPD-Bürgermeister schrieb ihr nur Formbriefe, statt sie zu Gesprächen zu treffen. Und als es in der Chemnitzer SPD 2002 erneut um ihre Aufstellung als Kandidatin ging, erzählt sie, führte der Vorsitzende des Stadtverbandes ihren Akzent als Minuspunkt ins Feld.

„Ist es unsere erzgebirgische Mentalität?“, fragt sie. „Oder liegt es daran, dass es in der DDR keine Streitkultur gab und sich die Leute deshalb so schwer tun, andere Meinungen zu akzeptieren?“ Es macht ihr zu schaffen, keine ehrlichen Antworten zu bekommen. „Damals wurde ich geholt, und jetzt werde ich fallen gelassen.“ Noch hat sie nicht resigniert. So leicht gibt sie nicht auf. Sie wird sich im September erneut um einen Vorstandsposten im Ortsverband bewerben. „Die SPD hier ist noch eine junge Partei. Aus dem Windelalter ist sie raus, aber es sind noch Kinder, die ohne Grund streiten.“ Jelena Hoffmann klingt wie eine russische Mama, die mit ihren undankbaren Kindern schimpft.

Doch erst muss sie die Sache mit der Klage zu Ende bringen. Deshalb ist sie am vergangenen Mittwoch nach Hannover gefahren, um sich mit dem Verfassungsrechtler Hans-Peter Schneider zu treffen, dem Direktor des „Instituts für Föderalismusforschung“, der als Kritiker einer vorzeitigen Parlamentsauflösung gilt. Am nächsten Tag erzählt sie in einem Café an der Berliner Jannowitzbrücke von dem zweistündigen Treffen. „Ich fühle mich in meinen Vermutungen und Auslegungen bestärkt. Aber leichter ist mir deswegen nicht geworden.“ Sie spricht darüber, wie schwer es ihr fällt, „gegen den offensichtlichen Strom zu schwimmen“ und „etwas zu machen, was sich angeblich nicht gehört“. Doch ihr Gewissen erlaubt ihr keine andere Entscheidung. „Mögen das andere verstehen oder nicht.“ Unsicherheit überfällt sie nur deshalb, weil sie es bis heute nicht als normal empfindet, als waschechte Russin ins deutsche Parlament gewählt worden zu sein. Und dann noch das Bundesverfassungsgericht. „Wer bin ich denn?“, fragt sie. Nach einigen Sekunden antwortet sie selbst. „Ein kleiner Popel.“ Auch wenn der Bundespräsident der Parlamentsauflösung zustimmen und das Bundesverfassungsgericht das für rechtens befinden sollte, empfände Jelena Hoffmann das nicht als Niederlage. Sie zitiert Paragraf 38 des Grundgesetzes, der besagt, dass die Bundestagsabgeordneten Vertreter des ganzen Volkes und nur ihrem Gewissen unterworfen sind.

Jelena Hoffmann steht am Rande eines schwarzen Loches und beginnt, es zu füllen. Neben der Kommunalpolitik will sie sich weiter im Deutsch-Ukrainischen Forum engagieren, das 1999 von den Außenministern beider Länder gegründet wurde. Sie möchte aus dem deutsch-ukrainischen Dialog eine Institution machen. Dafür braucht sie einen zugkräftigen Schirmherrn. Sie hat auch schon eine geeignete Person im Visier: Bundespräsident Horst Köhler. Aber zuerst will sie ihn noch verklagen.