Das Antanzen zum großen Ball

Am 7. Juni 2006 wird die Fußball-WM im Olympiastadion eröffnet. Zum ersten Casting für die Gala kamen über 400 Hobbytänzer. Darunter Breakdancer und die TU-Wirbelsäulengruppe. Choreograf Doug Jack sucht die Passion der Amateure

von Anne Haeming

„Koreanische Diktatoren kennen solche Aufführungen“, erzählt Simone Schiefke. „Menschenmassen, deren Bewegungen so koordiniert werden, dass sie Gestalt annehmen – diese Inszenierungen sind eine absolute Gratwanderung.“ Die Sinologin zupft an dem Zettel mit der Startnummer 10320 auf ihrem T-Shirt. „Das fasziniert mich total, deswegen bin ich hier.“ Doch von Koordination ist noch keine Spur. Simone Schiefke ist umringt von rund 60 anderen Tänzern, die hüpfen, mit der Hüfte kreisen, Handstand üben. Jeder für sich.

Sie bereiten sich auf ihren Auftritt vor. Auf ihren Auftritt am 7. Juni 2006 im Olympiastadion. Bei der Eröffnungsgala der Fußballweltmeisterschaft. Die wird von André Heller kuratiert, dem Mann für Zirkus, Varieté und Show. Wer unten auf dem Rasen mit dabei sein will, muss nur noch eine Hürde nehmen: Das Auswahlverfahren. Es gilt, den amerikanischen Chefchoreografen Doug Jack und sein Team zu überzeugen. In einem Fabrikgebäude eines Kreuzberger Hinterhofs hat die WM schon begonnen.

„André Heller? Ich dachte, das wäre ein Fußballstar“. Almir Zukanovic zuckt mit den Schultern. Der weltbekannte Kulturbeauftragte der WM ist dem lokalen Breakdancenachwuchs ziemlich egal. Es geht Almir Zukanovic um Promotion für sein Trio „Limited Edition“. Die Jungs mit den Startnummern 10291 bis 10294 trainieren ihre Moves normalerweise in einem Jugendklub. Im April hat „Limited Edition“ bei einem Berliner Jugend-Projekt-Wettbewerb den „Goldenen Alex 2005“ gewonnen. Die drei Tänzer wollen noch bekannter werden. Mehr Auftritte bedeuten mehr Geld, Almir Zukanovic sieht das ganz klar. Deshalb steht er hier in der Schlange, um sich vom Weltfußballverband Fifa fotografieren zu lassen.

Der Fifa ist keineswegs egal, wer da bei ihrer Eröffnungsgala im Stadion antanzen will. „Bitte hierher schauen!“ Die Fifa richtet ihre Digitalkamera auf den jungen Breakdancer. Die Fifa heißt hier Mandy Rodius und arbeitet ehrenamtlich. Almir hält sich seine 10192 schräg vor die Brust, kaut feixend an seinem Kaugummi. „Keine Faxen!“, kommandiert die Fotofrau. Almir mault: „Das ist ja fast wie im Knast hier! Deine Körperteile werden vermessen, jetzt auch noch ein Verbrecherfoto.“

Was Mandy Rodius als Fifa so macht, wenn sie fotografiert, darf sie nicht erzählen. „Helfer dürfen keine Fragen beantworten“, sagt ihr ein Kollege. Aber mit Fotos und Fußball kennt sie sich aus. Als Kind hat sie fünf Jahre beim Fußballverein Empor Hohenschönhausen trainiert, sie war Torwart. „Dann bin ich erwachsen geworden.“ Mandy Rodius nimmt einen Schluck Wasser. Almir ist im Kasten, viele Fotos von Gala-Anwärtern werden noch folgen. Die Luft ist stickig. Zu viele aufgeregte Menschen im Sportdress haben sich schon durch den Raum gedrängt.

Die Breakdancer sind längst eine Etage tiefer. Im Erdgeschoss werfen sie sich probeweise in die Luft. Auch die Sinologin Simone Schiefke und ihre Kollegen von der Wirbelsäulengruppe des TU- Hochschulsports wärmen sich hier auf. Der Raum ist nicht größer als ein Sechstel Fußballplatz, mit Wänden in Strafraumgrenzen-Weiß und einem Stoffvorhang. Der Vorhang ist so grau wie Paul Breitners Haare und teilt den Saal in zwei Zeitzonen: vor dem Vortanzen und während des Vortanzens.

In der Zeit vor dem Vortanzen ist die wichtigste Frage, ob der weltberühmte Choreograf mit der Glatze auch da ist, hinter dem Vorhang, in der anderen Zeitzone. Ja, Doug Jack ist dort. Er ist überall. Auch im Vorraum. Auf einem großen Flachbildschirm an der Wand schummert das Best-of seiner olympischen Eröffnungszeremonien, das bunte Flackern überzieht alle Wartenden. Auf der anderen Seite werden sie ihr Stück vorführen und anschließend versuchen, sich die Schrittfolge zu merken, die ihnen Dougs Assistent Danny vortanzt. „Audition“ heißt das Vortanzen, auf keinen Fall „Casting“, darauf legen die Veranstalter Wert. „Wir sind nicht wie die Leute in den TV-Shows, die böse Sachen sagen und euch wegschicken“, wird Danny vor jeder Runde sagen und seine perlweißen Zähne zeigen.

„Wenn die Auditions nicht in meiner Stadt gewesen wären, wäre ich nicht hergekommen“, erklärt Eva Günther, die Leiterin der Tanzgruppe, in der auch die Sinologin Simone Schiefke mitmacht. „Natürlich will ich im Olympiastadion von 1936 mehr, als nur ein Tuch hochhalten. Und ganz sicher werde ich meine Arbeit nicht für die Proben absagen.“ Günther ist, was die Werbeindustrie als vitale 50-Jährige bezeichnet. Sie hat ein eigenes Studio, ist Tänzerin, sie kennt Auditions.

Endlich darf die zweite Schicht auf die andere Seite des Vorhangs. Doug Jack, Danny und das gut gelaunte Team begrüßen die Neuen, die Breakdancer lassen sich nicht beirren und dehnen sich demonstrativ. „Die Schritte sind nicht so wichtig, es kommt auf eure Ausstrahlung an“, ruft Happy Danny jetzt in sein Headset. „Sei dabei!“, prangt auf seinem Rücken, das Wort „Auswahl“ steht nicht dabei.

Während der Auftritte sitzt Doug Jack an einem Tisch auf der Bühne. Der Choreograf macht sich Notizen. „Ich liebe es, wenn es nicht perfekt ist! Die Profis haben eine andere Haltung, it’s their job! No emotion! You need the desire, the passion!“ Der 43-Jährige hat schon 28 solcher Laienschauspiele professionell in Szene gesetzt, Olympia ohne ihn geht gar nicht mehr. Er war selbst lange Tänzer, aber jetzt: „bad knees and legs“. Es geht nicht mehr. Momentan bereitet er die Olympischen Winterspiele in Turin 2006 vor. Er verbringt die meiste Zeit in Italien, „bad for my low-carb diet“, seufzt er lächelnd, sein dunkler Backenbart kommt zur Geltung, wenn er mit seinem Problem mit der italienischen Pasta kokettiert.

Gleich sind die Breakdancer von „Limited Edition“ dran. Die 10293, Marian „Tyron“ Buballa, zieht sich noch einmal die schmutziggrauen Ellbogenschützer hoch, justiert die Schweißbänder und rückt die Baseballkappe zurecht. Der Rhythmus setzt ein. Die Breakdancer haben eine Minute Zeit. Nach drei Minuten kommt der Fade-out. „Wir waren noch gar nicht fertig“, Tyron hätte zu gerne noch den Headspin gezeigt. Doch der ist jetzt nicht gefragt.

„One, two, three, four“, Happy Danny tanzt allen die neue Schrittfolge vor. Das ist der Belastungstest. Alle müssen es nachmachen, üben und gruppenweise vorführen. Die Breakdancer Almir und Tyron stehen ganz hinten. „So eine Choreografie machen wir sonst ja nicht“, sagt Almir. Es kommt zu Rempeleien, Füße und Arme sind im Weg.

„Mit dem Abstandhalten hatte ich auch so meine Schwierigkeiten“, Simone Schiefkes Beine sind zu lang. Bis zu den von ihr erhofften Menschenmassen, deren Bewegungen so koordiniert werden, dass sie Gestalt annehmen, ist es noch ein langer Weg. Im Januar erfahren Schiefke und ihre Wirbelsäulengruppe, ob sie bei der WM-Gala mitwirken dürfen. Derweil schreibt die Sinologiestudentin ihre Magisterarbeit über die Darstellung des Körpers in der chinesischen Kunst. „Ich bin kein China-Eso-Freak!“, die 27-Jährige schüttelt sich. „Aber eins ist klar: Den Fußball, den haben die Chinesen erfunden.“