Ein Fall von Ruhestörung

In einem Hamburger Altenheim wohnt ein ehemaliger SS-Mann. Als bekannt wird, dass er wegen des Massakers an 560 Menschen in Italien rechtskräftig verurteilt wurde, teilen sich die Bewohner in zwei Gruppen: Die einen wollen von damals nichts mehr hören, die anderen sind empört, dass der Mann weiter unter ihnen lebt. Ein Besuch

VON FRIEDERIKE GRÄFF

Am Tag, als eine Zeitung schrieb, dass er als Kriegsverbrecher unbehelligt in einem Altenheim in Hamburg-Volksdorf lebe, ging Gerhard Sommer zum Hausleiter. „Damit ich nicht vom Stuhl falle“, sagt Achim Tobola. Sie seien zusammen ins Frühstückszimmer gegangen, Sommer sei nervös gewesen und habe ihm den Artikel gegeben. „Ich werde ihn erst mal lesen“, hat Tobola gesagt. Dann rief er den Anwalt von Cura an, der Firma, die das Altenheim betreibt, und fragte, was in einem solchen Fall zu tun sei. Was tut man, wenn ein Bewohner als ehemaliger SS-Mann wegen der Ermordung von 560 Menschen in Italien zu lebenslanger Haft verurteilt wird – und weiter mit einem unter einem Dach lebt?

Was tut man, wenn sich Demonstranten vor dem Haus versammeln und Bewohner Briefe schreiben, in denen sie Sommers Auszug fordern, während die anderen mit ihm Kaffee trinken? Es ist, als habe man in Haus Lerchenberg eine Versuchsanordnung aufgebaut: Wie reagieren die alten Leute, wenn das Dritte Reich ihnen noch einmal begegnet, und jeder kann vorbeischauen und das Ergebnis betrachten?

Achim Tobola ist ein freundlicher Mann in hellblauem Hemd. Er sitzt jetzt wieder im Frühstückszimmer mit den weißgedeckten Tischen, im Vorübergehen hat er vorhin einen alten Herrn an der Schulter berührt und gefragt, wie ihm das Abendessen schmeckt. Gerhard Sommer betritt diesen Raum nicht, weil es eine stillschweigende Vereinbarung gibt, dass er nicht an den allgemeinen Veranstaltungen teilnehmen soll. Achim Tobola sagt, es gebe drei Gruppen im Haus: ein paar wenige, die Gerhard Sommer offen ablehnten, und die Mehrzahl, die ihre Ruhe haben wolle. Die Hälfte davon spreche mit Sommer, die andere halte sich zurück.

Ein italienisches Militärgericht hat Sommer vor zwei Jahren in Abwesenheit als Führer der am Massaker in Sant’Anna beteiligten 16. SS-Panzergrenadierdivision zu lebenslanger Haft und Entschädigungszahlungen verurteilt. Noch prüft man in Italien einen Auslieferungsantrag. Die deutsche Staatsanwaltschaft ermittelt seit fünf Jahren in der Sache, für die Vertreterin der Nebenklage ist es unverständlich, warum nicht schon lange Anklage erhoben wurde. Die Rechtsabteilung der Cura hat entschieden, dass das italienische Urteil kein hinreichender Grund sei, den Mietvertrag mit Gerhard Sommer einseitig zu kündigen.

Für Achim Tobola ist das die Richtschnur für sein Verhalten, und er scheint froh, dass ihm eine gegeben wurde. „Ich versuche, meine persönliche Meinung außen vor zu halten“, sagt er. Manchmal kommt Gerhard Sommer zu ihm, um sich mit ihm zu beraten. Zum Beispiel wenn eine Demonstration vors Haus zieht. Tobola findet es schwierig, neutral zu bleiben, wenn er bei einem Kaffeekränzchen mitfeiert und fünfzig Meter weiter die Demonstranten ihre Schilder hochhalten. Wenn er rechtzeitig davon erfährt, schreibt er einen Rundbrief an die Bewohner. Bei der ersten Demonstration haben die meisten Bewohner ihren Einkaufsgang verlegt und sind zu Hause geblieben, Gerhard Sommer war nicht da. Es war nichts Aufregendes, sagt Achim Tobola, achtzig Leute, davon zehn oder zwanzig Berufsdemonstranten. „Die haben gut reden“, hätten die Bewohner gesagt. „Sie haben die Zeit ja nicht mitgekriegt.“

Elli Kortenhaus ignoriert Gerhard Sommer, wenn er ihr begegnet. „Ich sehe ihn gar nicht“, sagt sie, obwohl er jedes Mal eine Verbeugung andeutet, wenn sie sich im Flur treffen. „Etliche Bewohner meinen: ,Er ist so freundlich und hilfsbereit, er war ein junger Mann, es ist so lange her‘ “, sagt sie. „Je länger es dauert, desto mehr Zustimmung bekommt er.“ Elli Kortenhaus war früher Lehrerin, jetzt ist sie Heimbeirätin, und als sie in der Zeitung von dem Verfahren gegen Gerhard Sommer las, schrieb sie einen Brief, in dem sie seinen Auszug forderte.

Elli Kortenhaus findet, dass er in einer anonymen Siedlung wohnen sollte, nicht in Haus Lerchenberg, wo man sich kennt. „Man kann nicht darüber hinwegsehen, was er getan hat“, sagt sie. „Mit 22 Jahren weiß man, was es bedeutet, Kinder und ihre Mütter umzubringen.“ Unterschrieben haben den Brief zwölf oder vierzehn der Bewohner von Haus Lerchenberg, genau weiß sie es nicht mehr. Das ist ein Fünftel. „Die Bewohner wollen ihre Ruhe haben, die meisten sind sehr alt“, sagt sie. „Das muss man akzeptieren.“

Elli Kortenhaus ist 83 Jahre alt. Sie trägt eine weiße Weste über ihrer rosafarbenen Bluse und hat lackierte Fingernägel; es ist schwierig, ein Treffen mit ihr auszumachen, weil sie so viele Termine hat. Man versteht nicht recht, warum Alter und der Wunsch nach Ruhe ein akzeptabler Grund für die anderen sein sollte, wenn es keiner für sie ist. Aber schließlich will sie mit diesen Menschen weiter zusammenwohnen, und sie weiß, man macht sich nicht beliebt als jemand, der andern ein schlechtes Gewissen macht.

Nach ihrem Brief hat die Geschäftsleitung sie zu einem Gespräch mit dem Vorstand von Cura, mit Achim Tobola, Gerhard Sommer und seiner Tochter eingeladen. Gerhard Sommer hat wenig gesagt, seine Tochter hat für ihn beteuert, dass er nicht in Italien gewesen sei. „Dabei gibt es ja einen Film“, sagt Elli Kortenhaus. „Dort ist er deutlich zu erkennen.“ Der Film heißt „Todesengel. Auf den Spuren deutscher Kriegsverbrecher in Italien“ und wurde 2002 gedreht. Außer ihr hat ihn niemand aus dem Haus angesehen, auch nicht Achim Tobola, der fürchtet, dadurch seine professionelle Sicht zu verlieren.

In einer Szene ist Gerhard Sommer zu sehen, ein weißhaariger Mann mit Wollmütze, der Schnee vor seiner Einfahrt schippt. „Sind Sie Gerhard Sommer?“, fragen die Filmemacher. „Waren Sie Kompanieführer im 2. Bataillon der 16. SS-Panzergrenadierdivision?“, fragen sie. „Das ist korrekt“, antwortet Sommer. „Genau dieses Bataillon hat den Einsatz in Sant’Anna gemacht!“, rufen die Dokumentarfilmer. „Ich weiß es nicht, ich bin nicht dabei gewesen“, ruft Gerhard Sommer. „Ich habe mir keinerlei Vorwürfe zu machen. Für mich ist diese Zeit erledigt.“ Und dann bittet er die Filmleute zu gehen.

„Ich habe die SS kennengelernt“, sagt Elli Kortenhaus. „Ich weiß, was das für Verbrecher sind.“ Ihren Arbeitsdienst hat sie bei der Familie eines Mannes absolviert, der Leiter eines Arbeitslagers war. Elli Kortenhaus erzählt, dass sie gemeinsam mit der Ehefrau des Lagerleiters einen Plan gemacht habe, wie man den Lagerhäftlingen helfen könne. Sie habe dann ihr Fahrrad täglich im Lager putzen lassen, damit die Leute einmal an die frische Luft kämen, und die Ehefrau habe Häftlinge zum Tischlern und Nähen zu sich nach Hause bestellt, wo sie dann ein „herrliches Mittagessen“ bekommen hätten.

Wenn man Elli Kortenhaus zuhört, fragt man sich, ob nicht anderes möglich gewesen wäre als das Fahrradputzen. Man denkt, dass es Geschichten sind, zu deren Kern man nicht vordringt. Dass alles, was man in Haus Lerchenberg erfahren kann, Spielarten von Rechtfertigungen sind, vor sich und vor anderen. Achim Tobola sagt, dass es keine Systematik gebe. Dass sich nicht diejenigen gegen Sommer wehrten, die schon im Dritten Reich widerstanden. Und diejenigen schwiegen, die schon damals schwiegen. Aber was weiß er schon über die Geschichte der Hausbewohner? Belegt ist nur die von Gerhard Sommer.

Gundula Bernhard war früher einmal Sängerin, deshalb hat man sie gebeten, den Chor in Haus Lerchenberg zu leiten. Als sie die Geschichte von Gerhard Sommer hörte, gab sie dem Chor einen Brief, in dem sie Sommer dazu aufforderte, sich von den allgemeinen Veranstaltungen fernzuhalten. Nach der Probe hatten drei von fünfzehn unterschrieben. „Ich war furchtbar enttäuscht“, sagt Gundula Bernhard in ihrer Wohnung im benachbarten Ahrensburg. „Was riskieren sie schon?“, fragt sie. „Aber die Leute wollten nicht aus ihrer Ruhe gebracht werden. Vielleicht kann man es bei Alten verstehen – ich tue es nicht.“

Sie selbst ist 79 Jahre alt und verstand es so wenig, dass sie die Chorstunden aufgab. Sie hat den Chorleuten nicht erzählt, dass ihr Mann Jude war, dass seine Mutter in Auschwitz umkam und sein Vater mit zweien der Brüder im Budapester Ghetto verhungerte. Sie hat ihnen nicht gesagt, dass ihr Mann ständig in Todesstimmung gewesen war, die ihn nie wieder verlassen hat. „Natürlich spielt das eine Rolle für meine Haltung gegenüber Gerhard Sommer“, sagt sie. „Aber ich glaube, dass ich auch sonst so reagieren würde.“

In Hamburg-Volksdorf gibt es eine Bürgerinitiative „Gerechtigkeit für die Opfer und Hinterbliebenen des Massakers von Sant’Anna“, die eine ehemalige Pflegerin aus Haus Lerchenberg gegründet hat. Sie ist wegen interner Streitigkeiten nicht mehr dabei, und es sind nur wenige und vor allem Alte, die sich ab und zu in der Praxis eines Heilpraktikers treffen und überlegen, was sie tun können für die Gerechtigkeit. Sie sammeln Unterschriften, damit das deutsche Strafverfahren gegen Gerhard Sommer endlich eröffnet wird, sie zeigen den Film über die Massaker in Italien. Gundula Bernhard war nur zweimal da. „Es war furchtbar, die Leute waren so unentschlossen“, sagt sie.

Sie hat ihrem alten Italienischlehrer in Frankfurt die Berichte des italienischen Militärgerichts zum Übersetzen geschickt, aber dann ärgerte sie sich, dass der Sprecher der Bürgerinitiative so tat, als sei alles sein Verdienst, und dass ihr die Kosten nie ersetzt wurden. Sie redeten ihr zu viel und ohne Ziel, und sie fand es kläglich, wie wenig Unterschriften sie sammelten. Inzwischen hat sie sich einer anderen Initiative angeschlossen, die Geld für eine neue Orgel in Sant’Anna sammelt. „Ich bin ein schwieriger Mensch, dass ich mit allen in Krach gerate“, sagt Gundula Bernhard. „Ich bin so anspruchsvoll geworden.“

An einem Frühlingsabend trifft sich die Bürgerinitiative wieder in der Heilpraktikerpraxis, um darüber zu beraten, was sie weiter tun wollen. Eine alte Dame in orangefarbener Jacke, die den Film gesehen hat, ist als Gast dabei. 1986, als sie 60 Jahre alt war, ging sie zu einem Pastor, weil ihr eines keine Ruhe ließ: dass sie als 17-Jährige beim Reichsarbeitsdienst einen Eid auf die Nazis geschworen hatte. „Es heißt, alle haben es gemacht, aber das ist dabei egal“, sagt sie. Der Pastor erklärte ihr, dass sie bei dieser Schuld nicht stehenbleiben müsse. Dass sie jetzt etwas tun könne. Jetzt, nachdem sie den Film über die SS-Männer in Italien gesehen hat, sagt sie, würde sie gern „mit dem einen sprechen, der sich schuldig fühlt“. Sie würde ihm gern sagen, was ihr der Pastor gesagt hat. In dem Film gibt es eine Szene, in der ein SS-Mann sagt, dass er sich nicht schuldig, aber verantwortlich fühle. Die alte Dame muss das überhört haben, vielleicht wollte sie es auch überhören, er war der einzige unter all den SS-Männern im Film, der nicht alles rundweg abstritt. Er war auch der einzige, der bereits in Deutschland angeklagt war.

Beim Weggehen aus Haus Lerchenberg, als Elli Kortenhaus einen zum Ausgang begleiten will, bleibt sie plötzlich an der Galerie stehen: „Dort sitzt er“, sagt sie und zeigt auf einen braungebrannten Herrn im Hemd, der im Gespräch mit einer alten Dame an einem Tisch sitzt.

Er hatte nicht geantwortet auf den Brief, in dem man ihm um ein Gespräch bat. Stattdessen hat seine Tochter angerufen und gesagt, ihr Vater sei jetzt 86 Jahre alt und dazu nicht mehr in der Lage. Sie hätten schlechte Erfahrungen mit Zeitungen gemacht. „Er hat sehr viele Freundschaften“, sagt sie. „Aber es gibt auch Leute – was ich auch verstehen kann –, die andere Erlebnisse in dieser Zeit haben, jüdische Mitbürger, die andere Erfahrungen haben.“

Die Tochter klingt freundlich am Telefon, eigentlich möchte sie nicht mehr sagen, aber dann sagt sie doch noch, dass die Vergangenheit ihres Vaters kein Thema in Haus Lerchenberg sei. Die Leute lebten ihr Leben vor sich hin, sie redeten nicht viel miteinander. Wie sie selbst mit alldem lebe, fragt man schnell noch. „Es betrifft unsere Generation“, sagt sie. „Es ist nun mal so. Damit muss man sich lange auseinandersetzen.“ Und dann, am Schluss: „Ich kann Ihnen nur sagen: Mein Vater ist unschuldig, insofern kann ich damit leben.“

FRIEDRIKE GRÄFF, geboren 1972, ist Kulturredakteurin bei der taz nord in Hamburg