Norwegen fürchtet Zeitbombe

Unzureichend gesichertes russisches Atommülllager droht zu explodieren. 22.000 gebrauchte Brennelemente haben Sprengkraft von 5.000 Hiroschima-Bomben

„Eine atomare Wolke über ganz Nordeuropa“ – das könnte laut Nils Bøhmer, Atomphysiker und Mitarbeiter der norwegischen Umweltorganisation Bellona, die Folge der Explosion eines riesigen Lagers abgebrannter Brennelemente nahe der russisch-norwegischen Grenze sein. Hierbei könnte die Radioaktivität von 4.000 bis 5.000 Hiroschima-Bomben freigesetzt werden. Die Gefahr einer solchen Explosion ist nach Bellona-Informationen in einem Bericht der russischen Atomenergiekontrollagentur Rosatom nun erstmals als konkrete Bedrohung dargestellt worden.

Dabei galt das 45 km von der norwegisch-russischen Grenze entfernt liegende Atommülllager in der Andrejewa-Bucht bislang eher als allenfalls lokal gefährlich. Ursprünglich nur in Baracken oder unter freiem Himmel gelagert war aus fast 22.000 gebrauchten Brennelementen von Atom-U-Booten dort Ende der Siebzigerjahre erstmals Radioaktivität ausgetreten. Worauf man diese Brennelemente 1982/83 in Metallstäbe steckte und in drei Betontanks lagerte. Gedacht war das als kurzfristige Notlösung, die vier, fünf Jahre halten sollte. Tatsächlich lagern diese Brennstäbe dort so noch immer.

Bellona zitiert nun erstmals aus einem nicht öffentlich gemachten Untersuchungsbericht von Rosatom über die Zukunft des Atomlagers. Die Behörde konstatiert darin, dass in den Lagertanks von unten Meer- und von oben Regenwasser eingedrungen sei. In den teilweise durchgerosteten Rohren habe man Wasserstände in Höhe zwischen 20 und 100 cm gemessen. Dadurch seien auch die darin lagernden Brennelemente dem salzhaltigen Wasser ausgesetzt. Mit der Folge, dass sich Uranpartikel lösten und auf den Boden der senkrecht in den Tanks stehenden Metallrohre absinken.

Die Folgerung von Rosatom, so Bellona, sei eine drohende Explosion: Wenn die Uranpartikel in der homogenen Mischung eine Konzentration von 5 bis 10 Prozent erreichten, könnte eine Explosion stattfinden. Rosatom spreche von einer drohenden „unkontrollierten Kettenreaktion“. Im besten Fall, so Nikitin, würde das eine radioaktive Verunreinigung im Radius von etwa 10 km nach sich ziehen. Im schlimmsten Fall könne die gesamte Anlage explodieren, und dann wäre zumindest ganz Nordeuropa betroffen.

Oslo hat angekündigt, das Thema Andrejewa-Bucht bei einem Treffen von Ministerpräsident Stoltenberg mit dem russischen Präsidenten Putin am kommenden Samstag in St. Petersburg zur Sprache zu bringen.

„Allein die Sicherung des Atommülls in der Andrejewa-Bucht würde weit über 1 Milliarde Euro kosten“, sagt Bøhmer. Das Problem sei, dass die meisten westlichen Länder es nicht mehr einsehen, dem reichen Russland noch finanziell bei dieser Aufgabe zu helfen.

REINHARD WOLFF