Die Gläubiger im Nacken

Durch das ALG II ist die Zahl der verschuldeten Menschen drastisch gestiegen. Die arbeitslose Hamburgerin Karin Kacprowicz muss immer neue Schulden machen, nur um zu überleben. Wie ihr geht es etwa 100.000 weiteren Verarmten in dieser Stadt

Brot backt sie nur noch selbst, auch die Kleidung ist selbst genäht„Was droht, ist eine Insolvenz nur für Solvente“, sagt der Schuldenberater

von Eva Weikert

Immer donnerstags fährt Karin Kacprowicz von Billstedt in den „Knüllermarkt“ nach Glinde. Dafür leiht sie sich das Auto ihres Schwiegersohns, denn Bus- und Bahnfahren kann sich die 61-Jährige nicht leisten. Dort ersteht sie das Kilo Äpfel manchmal für einen halben Euro, den Becher Joghurt sogar für weniger als zehn Cent. Eigentlich aber kann sich Frau Kacprowicz überhaupt nichts mehr erlauben: Ihr sitzen 15 Gläubiger im Nacken, denen sie tausende von Euro schuldet. Und weil die Langzeitarbeitslose nicht genug Geld zum Leben hat, macht sie immer neue Schulden.

„Ich bin etwas hilflos“: Brigitta Gehrke, Schuldner- und Insolvenzberaterin beim Deutschen Roten Kreuz (DRK) in Hamburg, sieht fast so verzweifelt aus wie ihre Klientin. Frau Kacprowicz ist in die DRK-Beratungsstelle nach Lokstedt gekommen, weil sie Verbraucherinsolvenz anmelden muss. Gehrke hat ihre Schuldenlage analysiert und versucht, einen Regulierungsplan zu erstellen. „Aber die Schulden sind nicht zu regulieren“, sagt die Beraterin, „weil Frau Kacprowicz zu wenig Geld zum Überleben hat.“

Dabei spart die 1989 aus Polen ausgesiedelte Deutsche, wo sie nur kann: Was sie nicht als Sonderposten findet, besorgt sie sich auf Wochenmärkten kurz vor Schluss: „Da kauf ich die Reste billig auf“, sagt sie. Brot backt sie nur noch selbst, die Kleidung der gelernten Schneidermeisterin ist selbst genäht, der Stoff stammt von Flohmärkten oder aus Kleiderkammern. Zudem versucht die allein stehende Seniorin so oft wie möglich bei der Familie ihrer Tochter mitzuessen.

Seit 2002 geht es stetig bergab im Leben von Frau Kacprowicz. Doch zugeschnappt ist die Schuldenfalle erst im vorigen Januar mit dem Umbau der Sozialsysteme und der Einführung von Hartz IV. Seither bezieht sie wie rund 69.000 andere Langzeitarbeitslose in Hamburg nur noch 345 Euro Einheitsstütze. Weil sie davon auch noch Miete zahlen muss, bleiben ihr am Ende gerade mal 168 Euro. Davon muss sie nicht nur sich selbst, sondern auch ihren Sohn ernähren und Schulden abstottern. Beraterin Gehrke sagt: „Das geht gar nicht.“

Die Hamburger Hartz IV-Behörde verweigert Kacprowicz den vollen Mietzuschuss mit der Begründung, sie teile ihre Wohnung mit dem volljährigen Sohn. Der 33-Jährige sei arbeitsfähig und könne Geld zur Miete beisteuern. Aus Sicht der Mutter aber stellt sich die Situation anders dar: „Witold ist geistig behindert“, sagt sie, leide seit Jahren an einer psychischen Erkrankung. Zum Beweis legt sie ein ärztliches Attest auf Polnisch und ein Dokument vor, das eine Behörde im polnischen Gdansk ausgestellt hat und sie als Vormund des entmündigten Sohnes ausweist. Doch die deutschen Gerichte haben die Papiere nicht anerkannt und befanden, der Sohn könne arbeiten gehen.

Die Schulden der Mutter sind mit rund 12.000 Euro vergleichsweise niedrig. Die meisten Hilfesuchenden, die zum DRK kommen, stünden mit 30.000 bis 40.000 Euro in der Kreide, berichtet Gehrkes Kollege Oliver Bürgel. Früher haben die beiden und ein weiterer Kollege die Schuldnerberatung noch zu dritt geschafft. Zum Start von Hartz IV und des neuen Arbeitslosengeldes II (ALG II) im Januar aber stockte das DRK sein Team auf neun Berater auf. „Mit Hartz IV“, so Bürgel, „hat der Bedarf einen Quantensprung gemacht.“

Durch den kargen 345-Euro-Regelsatz seien Arbeitslose, die schon lange nur über geringe Einkünfte verfügten, jetzt „vollends in die Misere geraten“. Zugleich stürzten aufgrund der Massenarbeitslosigkeit auch vermehrt Menschen, die bisher genug für Familiengründung und Eigenheimfinanzierung verdient hatten, „in den Schuldenkreislauf“, warnt der Berater.

Die Zahl der Erstgespräche beim DRK stieg in der ersten Jahreshälfte gegenüber den Vergleichsmonaten 2004 um 117 Prozent. Etwa 1.200 Menschen halfen Bürgel und seine Kollegen allein im vorigen Jahr. Wegen der steigenden Nachfrage stehen aktuell rund 400 Menschen auf der Warteliste des Roten Kreuzes, bis zu vier Monate müssen sie sich gedulden. Auch die anderen Hamburger Träger können den Ansturm nicht bewältigen: Dem Senat zufolge warten in der Stadt derzeit etwa 2.400 Verschuldete auf einen Beratungstermin. Laut Schätzung der Verbraucherzentrale sind 100.000 Hamburger von Überschuldung betroffen.

Frau Kacprowicz steckt heute so tief in den Miesen, weil sie einst in einen Job investierte. Für die Stelle einer ambulanten Altenpflegehelferin beim Arbeiter-Samariter-Bund (ASB) benötigte sie ein eigenes Auto und nahm dafür einen Kredit auf. Im Oktober vor drei Jahren habe ihr der ASB betriebsbedingt kündigen müssen, berichtet sie. Obwohl sie den Wagen danach verkaufte, „ist seine Abzahlung bis heute das Hauptproblem“. Hinzu kämen jüngere Schulden bei Versicherungen und Veranstaltern von Busverkaufsfahrten.

Jetzt will sich Frau Kacprowicz durch die Verbraucherinsolvenz sanieren. Dafür muss sie alle Schulden offen legen. Ein vom Gericht bestellter Treuhänder wird die Forderungen der Gläubiger überprüfen, danach beginne für Frau Kacprowicz „eine sehr, sehr harte Zeit“, sagt Beraterin Gehrke. Sechs Jahre dauert die Entschuldung. In dieser Zeit ist die Schuldnerin vor Zwangspfändungen durch ihre Gläubiger gesetzlich geschützt. Zugleich darf sie keine neuen Miesen machen und muss sich nachweislich um Arbeit bemühen.

Weil ihre monatlichen Einkünfte mit 345 Euro aber weit unter der Pfändungsgrenze von 990 Euro netto liegen, kann das Gericht kein Geld an die Gläubiger verteilen lassen. Hält Frau Kacprowicz durch, ohne neue Schulden zu machen, befreit das Gericht sie nach sechs Jahren von der Last. Die Gläubiger indes gehen leer aus.

80 Prozent der DRK-Klienten wählen die Verbraucherinsolvenz, zwei Drittel der Anmelder sind langzeitarbeitslose ALG-II-Empfänger. Je nach Anzahl der Gläubiger kostet den Schuldner das Verfahren 500 bis 2.500 Euro. Höchstens jeder Zehnte könne die Gebühr berappen, schätzt Schuldenexperte Bürgel. Wer das Geld nicht aufbringen kann, dem erlässt das Gericht die Verfahrenskosten. „Nur deshalb können überhaupt so viele Menschen in die Insolvenz gehen“, erklärt Bürgel.

Doch das soll sich jetzt ändern. Die Justizminister der Länder planen, die Stundung abzuschaffen. Die Verbraucherinsolvenz soll es ab 2006 nur noch für jene geben, die die Verfahrenskosten selbst bezahlen können. Die Bundesländer versprechen sich von der Gesetzesänderung jährliche Einsparungen von mehreren Millionen Euro. Bürgel kritisiert: „Was droht, ist eine Insolvenz nur für Solvente.“

Für die Ärmsten der Armen wie Frau Kacprowicz, die die Verfahrensgebühren nicht bezahlen können, fällt die Tür zwar nicht ganz zu: Sie sollen künftig bei Gericht eine auf acht Jahre verlängerte Schuldenregulierung beantragen können. Doch das neue Verfahren sieht keinen Pfändungsschutz mehr vor. „Ohne den aber“, warnt Bürgel, „kommen die Menschen aus der Schuldenfalle nicht wieder heraus und somit nie zur Ruhe.“