Lasst die Polen rein!

Gewerkschaften und Grüne wollen Arbeitsmarkt öffnen, die Bundesregierung sagt Nein

„Ohne Beschränkungen ist mit höherem Andrang im Niedriglohnsektor zu rechnen“, meint Berlin

AUS BRÜSSEL DANIELA WEINGÄRTNER

Ausländische Arbeitskräfte kurbeln die Wirtschaft an, füllen unbesetzte Lücken auf dem Arbeitsmarkt und tragen dazu bei, dass neue Stellen entstehen – so das Fazit der EU-Kommission nach knapp zwei Jahren Osterweiterung. Im Auftrag des Rates hatte die Abteilung von Arbeitskommissar Vladimír Špidla Statistiken ausgewertet und unterschiedliche Steuerungsinstrumente miteinander verglichen. Nur Schweden, Irland und Großbritannien hatten ihre Arbeitsmärkte sofort zum Beitrittstermin am 1. Mai 2004 für Zuwanderer aus den neuen Mitgliedstaaten geöffnet. Die anderen 12 EU-Mitglieder hatten Quoten oder andere Beschränkungen eingeführt.

Die Zahlen zeigten, dass die Wanderungsbewegungen vor dem Beitrittsdatum nicht viel anders aussahen als danach, erklärte Špidla. Deutschland zum Beispiel habe nur 3,5 Prozent mehr Anträge auf Arbeitserlaubnis erhalten als die jährlich zugelassene Quote von knapp einer halben Million. In Italien sei die Quote nur zur Hälfte ausgeschöpft worden. In Großbritannien habe die Freizügigkeit dazu geführt, dass viele, die bereits vorher illegal im Land arbeiteten, ihr Arbeitsverhältnis nun legalisiert hätten. Genaue Zahlen konnte Špidla dazu natürlich nicht nennen. Doch auch die Gewerkschaften sind überzeugt, dass eine Öffnung der Arbeitsmärkte Schwarzarbeit eindämmt und damit die wirksamste Maßnahme gegen Lohndumping ist.

Die Grünen im Europaparlament sprachen sich gestern ebenfalls gegen weitere Beschränkungen aus. Die Abgeordnete Elisabeth Schroedter sagte: „Die Übergangsregeln verdecken die Tatsache, dass es eine Wanderung auch in die Mitgliedstaaten mit Zugangsrestriktionen gibt. Sie arbeiten als Illegale oder als Scheinselbstständige. Lohndumping und unsichere Arbeitsverhältnisse mit negativen Auswirkungen für regionale Arbeitsmärkte sind die Folge.“ Ähnlich äußerte sich die österreichische grüne Abgeordnete Eva Lichtenberger, deren Land genau wie Deutschland an den Beschränkungen festhalten will.

„Migranten haben die Lücken auf dem Arbeitsmarkt gefüllt und damit die Wirtschaft positiv beeinflusst“, sagte Špidla. Allein in Deutschland könnten 700.000 Stellen nicht besetzt werden, das lähme die Wirtschaft. In Anspielung auf die Angst vieler Menschen vor weiterer Liberalisierung sprach der Kommissar vom „Januskopf der EU. Ein Gesicht schaut weit in die Zukunft, das andere, das in die Vergangenheit schaut, ist etwas kurzsichtig.“

Die Arbeitsmarktstatistiken, die Špidla gestern vorlegte, lassen sich so interpretieren, dass ein Plädoyer für den freien Binnenmarkt dabei herauskommt. Sie lassen aber auch die genau gegenteilige Schlussfolgerung zu. Denn Deutschland und Österreich haben zwar Quoten, doch die sind so hoch, dass der Anteil von Osteuropäern am Arbeitsmarkt dort höher ist als in fast allen Ländern, die keine Quote eingeführt haben. Nur Irland bildet da eine Ausnahme.

„Migranten füllen Arbeitsmarktlücken und sind so positiv für die Wirtschaft“, sagt Brüssel

Špidla musste sich gestern von Journalisten vorhalten lassen, er interpretiere seine Zahlen rosig und wolkig. So sei es zumindest fragwürdig, ob der Wirtschaftsboom in Großbritannien wirklich mit der unbeschränkten Zuwanderung erklärt werden könne. Der Unterschied zu Ländern wie Deutschland bestehe doch wohl eher darin, dass die sozialen Standards gering und dadurch die Lohnkosten billig seien. Ein Blick auf die Zahlen zeigt, dass dieser Einwand berechtigt ist. Während in Deutschland im vergangenen Jahr 0,7 Prozent der Arbeitsplätze von Osteuropäern besetzt waren, waren es in Großbritannien nur 0,4 Prozent.

Die Bundesregierung zeigte sich denn auch unbeeindruckt von der Liberalisierungsoffensive der Kommission. Man werde, wie im Koalitionsvertrag vereinbart, an den Übergangsbestimmungen festhalten, teilte Arbeitsminister Franz Müntefering mit. „Beim Wegfall der bestehenden Beschränkungen wäre mit einem weitaus höheren Andrang von Wanderarbeitnehmern vor allem im Niedriglohnsektor zu rechnen. Dies könnte in der derzeitigen Lage zu nicht hinnehmbaren Spannungen auf dem deutschen Arbeitsmarkt führen, der weiterhin von hoher Arbeitslosigkeit geprägt ist.“

Deshalb wird Deutschland, wie in den Beitrittsverträgen als Möglichkeit vorgesehen, die Beschränkungen für weitere drei Jahre verlängern. Danach könnte die Regelung noch einmal für zwei Jahre aufrechterhalten werden. Allerdings nur, wenn der jeweilige Staat Probleme für seinen Arbeitsmarkt nachweisen kann. Das dürfte nicht schwer fallen, denn Statistiken sind genauso vielseitig lesbar wie Kaffeesatz.