„Neue Architektur ist langweilig“

Laurenz Demps

„Der Palast der Republik ist schlicht architektonisch verunglückt. Er wurde nicht nach den ursprünglichen Plänen gebaut. Das hat mir der Architekt Heinz Graffunder bestätigt“

Wenn Laurenz Demps durch Berlin geht, sieht er mehr als andere. Kaum jemand kennt so viele Geschichten über Straßen und Orte der ehemaligen Reichshauptstadt wie der gebürtige Prenzl’berger. Der 65-Jährige kennt die Geschichten hinter den Fassaden: Berlins Wurzeln im märkischen Morast, die Zerstörung der Stadt im Zweiten Weltkrieg oder der umstrittene Plan, das Stadtschloss wieder aufzubauen. Sechs Tage vor dem Mauerfall forderte Demps die Gewaltenteilung in Ostberlin. Er gehört zu den wenigen DDR-Historikern, die auch nach der Wiedervereinigung ihren Job behalten konnten. Als der Historiker im vergangenen Jahr die Humboldt-Uni (HU) verließ, machte er im Bereich Berliner Landesgeschichte das Licht aus

INTERVIEW MATTHIAS LOHRE

taz: Herr Demps, was wird vom heutigen Berlin in 500 Jahren noch stehen? Die erwartbare Antwort „Brandenburger Tor“ gilt nicht.

Laurenz Demps: Die Nikolaikirche zwischen Rotem Rathaus und Spree.

Warum?

Sie ist nicht nur mit fast 800 Jahren die älteste Kirche Berlins. In ihr spiegelt sich die Stadtgeschichte: Für ihre Rekonstruktion Ende der 70er-Jahre verwendeten wir Steine aus dem Mittelalter, der Nazizeit und der DDR. Die lange Geschichte Berlins, von Zerstörung und Wiederaufbau, kann man hier greifen.

Ist Stadtgeschichte den BerlinerInnen nicht ziemlich gleichgültig?

Vielen natürlich schon. Ständig kommen Menschen in die Stadt, bleiben ein paar Monate oder Jahre und ziehen weiter. Die entwickeln kein Interesse. Aber ich kenne auch das Gegenteil. Seit 1982 mache ich mit Historiker-Kollegen regelmäßig Abendvorlesungen zur Geschichte Berlins. Die Säle sind noch heute brechend voll.

Was interessiert diese ZuhörerInnen an ihrer Stadt?

Viele Menschen interessieren sich für die Auswirkungen der großen Geschichte auf ihre Stadt – und damit auf ihr eigenes Leben. Wenn ich beispielsweise von der Entstehung Groß-Berlins bis 1920 erzähle – erst damals kam Charlottenburg zu Berlin –, und plötzlich taucht ihr Straßenname auf. Auch Begriffserklärungen werden gerne angenommen, etwa die der „5 Minuten vor 12“.

Und, woher stammt’s?

Vom Großen Wachaufzug Unter den Linden, vor dem Alten Palais. Wilhelm I. trat kurz vor 12 Uhr ans Eckfenster des Kaiser-Wilhelm-Palais, um den Aufzug zu sehen und sich von der patriotischen Bevölkerung bejubeln zu lassen. Wenn ein Minister oder Botschafter kurz davor zum Gespräch einbestellt wurde, war das ein Wink, dass es um die Sache nicht gut bestellt war. Gegen 11.55 Uhr überbrachte ein Diener die Botschaft: „Majestät, es ist fünf vor zwölf.“ Das war ein deutlicher, aber vornehmer Wink, dass die Audienz zu Ende war. Und ein Hinweis, wie sich Kleinigkeiten ihren Weg ins öffentliche Bewusstsein bahnen.

Was sind Ihre ersten Berlin-Erinnerungen? Sie kamen ja mitten im Krieg in Prenzlauer Berg zur Welt.

Als mein Vater 1946 aus der Kriegsgefangenschaft zurückkam, war ich sechs Jahre alt. Wir gingen durch die Trümmerlandschaft zum heutigen Bebelplatz. Mein Vater zeigte auf die Ruine der Hedwigs-Kathedrale und sagte: „Hier war der Stuhl des Bischofs.“ Das konnte ich nicht fassen: Hier, inmitten all der Trümmer, soll einmal eine Kirche gestanden haben?

Hat es damals angefangen, Ihr Interesse für das vergangene Berlin?

Schon als Kind spürte ich nach Sammelbildern einer Wiesana-Margarine-Fabrik mit Abbildungen von Berlin. Gefördert wurde das von meinem Vater, der beim Einkaufszentrum Wertheim gearbeitet hatte. Er wollte Bildung, Bildung, Bildung. Historiker wollte ich da noch nicht werden. Mitte der 50er-Jahre ging ich bei der Reichsbahn in die Lehre. Freunde nahmen mich nach meiner Ausbildung mit zu Vorlesungen. Da wuchs mein Interesse, da man hier Dinge anders behandelte. Aber noch galt das für mich als brotlose Zunft.

Sie machten das Abitur nach, studierten an der Humboldt-Uni, wurden zunächst Dozent und 1988 Professor. Welche Tabus gab es für sie, einen Geschichtsschreiber in einer Diktatur?

In der Forschung keine. Es kam auf die Wahl der Themen an. Ärger konnte es erst geben, wenn die Texte fertig waren. Allerdings lernte man sehr schnell, was man besser unterließ beziehungsweise: wo die berühmte Schere im Kopf einzusetzen war. Für eine Arbeit hatte ich über Berliner Zwangsarbeiterlager im Zweiten Weltkrieg geforscht. Über die Stadt verstreut stellte ich rund 800 Standorte fest. Als die Ergebnisse publiziert werden sollten, unterstellte mir die Hauptverwaltung Verlage des Kulturministeriums die Entwicklung und Pflege eines „Gesamtberliner Bewusstseins“. Die Arbeit sollte keine Druckgenehmigung bekommen.

Warum?

Ich hatte nicht zwischen Lagern im West- und Ost-Teil unterschieden. Was für ein Unsinn! Die Fliegerbombe fragte ja nicht, ob sie im West- oder Ost-Teil niederging. Genauso wenig kann man die Zwangsarbeiter aus der Betrachtung ausklammern, weil sie im – späteren – West- oder Ost-Berlin hausen mussten. Eineinhalb Jahre lag mein Manuskript in einer Schublade der Hauptverwaltung, dann setzte sich Vernunft durch.

Am 3. November 1989 wurden Sie vom Beobachter zum Mitgestalter Berliner Geschichte. In der Stadtverordnetenversammlung (SVV) von Ost-Berlin forderten Sie die Trennung von Magistrat und SVV – Gewaltenteilung in der Hauptstadt einer Diktatur.

Meine kurze Rede begann ich mit Worten aus dem Buch der Psalmen, Psalm 95, Vers 10: „Vierzig Jahre habe ich mich mit dem Volk gequält, es wollte meine Lehren nicht.“ Und tatsächlich wurde mein Vorschlag so beschlossen. Ich glaubte immer noch, die DDR könne sich selbst reformieren.

Was änderte sich nach der Wende für den Historiker Demps?

Endlich konnte ich an Archive heran, die Ostdeutschen zuvor versperrt waren. Verwandte und Bekannte mussten nicht mehr dafür herhalten, mir Geschichtsveröffentlichungen aus dem Westen mitzubringen. Plötzlich hatte ich alle Freiheit.

Und das Verhältnis zu den Westberliner Historikern? Trafen da nicht Welten aufeinander?

Als einige von uns einander Silvester 1989/90 trafen, waren alle voller Euphorie. Man dachte über Gemeinsamkeiten nach. Doch ich ahnte schon: Wir werden alle bald Konkurrenten an den schmalen Töpfen der Wissenschaft sein.

Trotzdem bewarben Sie sich 1992 um eine Professur an der HU.

Viele meiner Ost-Kollegen trauten sich das nicht, weil sie wussten, dass sie eine Leiche im Keller hatten. Natürlich wurde ich nicht berufen. Aber ich wurde weiter beschäftigt. Vor dem Arbeitsgericht klagte ich auf Weiterbeschäftigung und gewann. Mir kam zugute, dass der gegnerische Anwalt gesagt hatte: „Der Demps hat zu viel Rotlauf.“ Der Richter stellte sachlich fest: „Das kenne ich nur aus dem Tierreich.“ Rotlauf ist eine Schweinekrankheit. Seit 1999 wurde mein Vertrag immer nur um zwei, drei Semester verlängert. Bis zu meiner Emeritierung im vergangenen Jahr. Ich habe im Bereich Berliner Landesgeschichte als letzter Universitätsprofessor das Licht ausgemacht.

Mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges endet auch Ihr Forschungsinteresse. Und was war mit der DDR?

Die Auseinandersetzung mit der DDR ist natürlich problematisch für mich: Ich war ja in dem System drin. Ich gebe Ihnen ein Beispiel. Mir liegt ein Brief vor, in dem ein alter FDJ-Kamerad Erich Honeckers den Staats- und Parteichef bittet, er möge doch bitte an die Staatsoper wieder „Fridericus Rex – Appollonii et musici“ schreiben. Honeckers alter FDJ-Kamerad war inzwischen Abteilungsleiter im Kulturministerium. Honecker nahm den Brief, zeichnete „Einverstanden“ drauf, und die Sache war erledigt. Mit Beziehungen klappte auch scheinbar Unmögliches.

Na und? Schreiben Sie das auf!

Das ist mein Problem. Man könnte den Mann jetzt dafür bejubeln. Aber er war auch in den Abriss der Leipziger Universitätskirche 1968 verwickelt. Mir fällt ein eindeutiges Urteil über solche Menschen sehr schwer. Dafür war ich zu nah dran. Er hat ja dazu gelernt, aber die Handlungen bleiben.

Konnten Sie zu DDR-Zeiten etwas von „Ihrem“ Berlin vor der Zerstörung schützen?

Man hatte in Ost-Berlin zwei Möglichkeiten, etwas gegen den radikalen Umbau der Stadt zu tun. Entweder konnte man mit einer Eingabe protestieren, oder man beteiligte sich an der Anfertigung eine Denkmalschutzliste. 1975 entstand eine Liste mit schützenswerten Bauwerken – die erste seit 1933. Sie müssen bedenken: In beiden Teilen der Stadt gab es bis in die frühen 70er-Jahre Abschlagsprämien – Geld für die Zerstörung von dekorativen Altbaufassaden.

Bewahren statt neu bauen also. Warum stimmten Sie dann in der Expertenkommission „Historische Mitte“ mit Ja, als es um den Stadtschloss-Neubau ging? Wollen Sie nur bewahren, was bis 1945 gebaut wurde?

Nein. Der Palast der Republik ist schlicht architektonisch verunglückt.

Nicht verunglückter als jede zweite westdeutsche Einkaufspassage.

Der Palast wurde nicht nach den ursprünglichen Plänen gebaut. Das hat mir der Architekt Heinz Graffunder bestätigt. Der wollte den Palast in der Kubatur des Schlosses bauen. Das hätte alles geändert: der Lustgarten, der Dom, Unter den Linden – zu all diesen Punkten steht ein Gebäude an dieser Stelle in Beziehung. Der Palast nimmt keine dieser Bezüge auf, sondern durchschneidet die Sichtachsen. Er ist fehl am Platz.

Es gibt doch Alternativvorschläge, die diesen Raum nutzen wollen. Nicht nur das Schloss.

Keiner dieser Vorschläge hat mich überzeugt. Kein Architekt hat einen Weg gefunden, diese riesige Fläche zu bändigen. Die Kraft der Architekten ist erschöpft.

Ist der Schloss-Wiederaufbau letztlich nicht unglaublich langweilig? Nach 50 Jahren fällt den Berlinern nichts Besseres ein als eine schlechte Kopie des Alten?

Langweiligeres als viele Teile der neuen Architektur gibt es doch gar nicht. Schauen Sie sich an, was für Zweckarchitektur der legendäre Friedrich Schinkel gebaut hat! Alles mit Stil. Sie werden staunen, was noch als kritische Rekonstruktion in den nächsten Jahren entstehen wird.

Wenn Sie einen Berlin-Besucher an einen Ort schicken müssten, an dem er besonders viel über die Stadtgeschichte erfährt, welcher wäre das?

Zum Invalidenfriedhof: Da liegen preußische Generäle neben Reinhard Heydrich, dem Chef des Reichssicherheitshauptamts, ermordete Widerstandskämpfer und anonym bestattete Bombentote aus dem Zweiten Weltkrieg. Große Teile gehörten zum Todesstreifen der Mauer.

Wenn Sie eine Zeitmaschine hätten, wohin würden Sie reisen?

Am Mühlendamm haben Forscher in den 90er-Jahren ein behauenes Stück Holz gefunden. Das war so gut erhalten, dass man anhand der Jahresringe feststellen konnte, in welchem Jahr der Baum gefällt wurde. Das war im Jahr 1171 – 60 Jahre vor der ersten urkundlichen Erwähnung Berlins. Da würde ich gerne mal hin.