Durch die wilde Macchia

Wo Pasquale de Paoli vor 250 Jahren die Republik probte und der nationalistische Rebell Yvan vor zwei Jahren untertauchte – eine korsische Reise von der offenen Küste in die unzugängliche Macchia

von GERD SCHUMANN

Keinen Katzensprung entfernt vom Meer, im Bistro um die Ecke vom Justizpalast in Ajacciu bringt die Kellnerin einen großen Café Crème nebst frischem Croissant, von dem ich mit einer Hand mühsam eine Spitze abknicke, krümelig, um zeitgleich mit der anderen die Morgenzeitung aufzuschlagen. Auf Seite eins von „Corse Matin“ Schumi Schuhmacher, Gattin Corinna ausführend zu „le shopping in Cannes“.

Schuhmacher, nicht nur wegen der Stachelbeine unterhalb bunter Shorts Prototyp des hässlichen Deutschen, glotzt mich so locker an wie ein Rennfahrer beim vergeblichen Versuch, die Kurve zu kriegen. Der Tag scheint gelaufen. Dunkle Wolken ziehen auf. Göttliche Vorsehung etwa?

Nun, bis heute weiß niemand, wer gezündelt hat. Ob irgendein Touri eine glühende Zigarettenkippe in die knochentrockene Macchia schleuderte oder ein korsischer Bauer sich mühsame Feldbestellarbeit hinterm Pflug ersparen oder ein Hotelkonzern dem hartleibigen Kleingrundbesitzer die brandrote Karte zeigen wollte. Fakt ist, dass zum soundsovielten, kaum zählbaren Mal in diesem Jahr die Feuersbrunst quadratkilometerweise Busch frisst und die Löschmannschaften keine Chance haben.

Also wird Luftunterstützung angefordert. Fliegenden, dickbäuchigen Staubsaugern gleich schleichen sich drei träge Flugzeuge knapp über die Wasseroberfläche des Golfs bei Ajacciu (französisch: Ajaccio). Fontänen feinster Wasserpartikelchen aufwirbelnd schlürfen die „Wasserbomber“ Mega-Kubikmeter Flüssigkeit in sich hinein, um dann hurtig abzudrehen in Richtung der dicken, schwarzen Rauchschwaden, wo sie ihre Ladung abkippen werden: Ein Drittel direkt ins Feuer, zwei Drittel auf die angrenzenden Noch-Grünflächen. Zwei Tage, so lese ich später in der Zeitung, werden sie brauchen, um den Brand unter Kontrolle zu bekommen. „L’Incendie“, die Feuersbrunst, gehört seit ewig zu den schicksalhaften Schrecken der viertgrößten mediterranen Insel. Deren offenbare Unvermeidbarkeit verweist darauf, warum auf Korsika schwarz Modefarbe ist und das Eiland als Hort einer tiefen Traurigkeit gilt.

Völlig unbeeindruckt von der rauchumnebelten Sonne zupfen zwei Musiker am Kai gelangweilt die Saiten ihrer Gitarren, sonnenbebrillt, Beine übereinandergeschlagen, lässig. Sie werden als touristisches Beiprogramm eher belächelt. Eingeborene halt ... Achtlos schlendern die Fremden an den beiden Männern vorbei zum „petit train“, einer putzigen Kindereisenbahn auf bereiften Rädern, die die schnatternde Schar zum Sightseeing durch Napoleons Geburtsstadt Ajacciu transportieren wird. Das Feuer ist weit, doch riecht’s mittlerweile leicht brenzlig und ganz anders, als es der kleine Imperator nach Waterloo auf St. Helena erinnerte: „Alles ist auf Korsika besser, selbst der Geruch, den es ausströmt.“

Nach 15 Minuten fällt für die Gitarreros ein imaginärer Vorhang und sie packen ihre Gerätschaften zusammen. Auch vollkommen ohne Worte hatte das zur Aufführung gelangte Stück von schlecht bezahlter Arbeit im Tourismusbereich erzählt, und ich erinnere mich noch lebhaft an meinen ersten, von unbedarfter Kenntnislosigkeit geprägten Aufenthalt hier, als die Dorfbewohner nach ihrem ungeliebten Tagwerk inmitten des brausenden Fremdenverkehrs selbst in ihrer Lieblingskneipe noch auf uns Touristen stießen, fleißig um Kontaktpflege zur weiblichen Bevölkerung bemüht. Nach wilder Verfolgungsjagd mit großen Hunden und doppelläufigen Jagdgewehren im Nacken endeten wir schließlich in einem Dornenbusch, schwer zerkratzt, aber glücklich, überlebt zu haben. Das war im rauhen Landesinneren, mitten in der Macchia, wo es mich nun wieder hinzieht – nicht mit dem „kleinen Zug“, sondern mit einem richtigen.

Von Ajacchiu nach Bastia fährt der „train malin“, was sowohl „pfiffiger“ als auch „boshafter Zug“ bedeuten kann. Wenige Sekunden nach Abfahrt demonstriert er mit lautstarkem Pfeifen, warum er so heißt, um sich in den Stunden danach vehement selbst zu widersprechen: Brutalst, mal in rasanter Talfahrt, meist jedoch beschwerlichem Aufstieg, immer schnaufend und fauchend, bahnt sich die Diesellok ihren Weg. Der Rentnerin neben mir steht die Angst im Gesicht, während sich mein stählerner Reportergriff im Plastikpolster des Vordersitzes verkrallt.

So verlassen wir die für alles offene Küste, an der über Jahrtausende die Piraten mit oder ohne Totenkopfflagge landeten: Griechen, Sarazenen, Kelten, Römer, Pisaner, Genuesen, Franzosen, Engländer und so weiter und wieder Franzosen. Die sind immer noch hier. Die Strecke in Richtung der historischen Hauptstadt Corti (französisch: Corte), als Korsika Republik war, führt durch weite Gebiete ehemaliger Wälder, längst vernichtet von den Schiffbauprogrammen der imperialistischen Mächte des Altertums mit Mark Anton an der Spitze. Der ließ seine mit Äxten bewehrten Sklavenheere zunächst für unbehinderte Sicht auf die Berge sorgen, um ihnen abschließend das zweifelhafte Vergnügen langer Fahrten auf Galeeren zu verschaffen – alles im Namen des freien Welthandels, versteht sich. Ist die Baumvegetation erst einmal abgestorben, liegt der Boden ungeschützt vor Sonne und Witterung, und nur noch widerstandsfähigere Pflanzen können standhalten. Und also schufen Rom und Athen auf Korsika die botanisch günstige Voraussetzung für das Gedeihen von dichtem, unzugänglichem Buschwerk, der „Macchia“.

In meinen Gedanken schaut nun Prosper Mérimée aus dem Fenster unseres Zugwaggons und ich ihm über die Schulter. Er schreibt: „Hier und da ragten noch Sträucher und einige dicke, feuergeschwärzte und völlig entlaubte Bäume empor, obwohl sie kein Leben mehr in sich hatten. Wenn man eine abgebrannte Macchia sieht, glaubt man sich in eine nordische Winterlandschaft versetzt.“ Mit seinen Novellen „Colomba“ und „Matteo Falcone“ übernahm Mérimée im neunzehnten Jahrhundert ein gerüttelt Maß an Schuld für Korsikas tieftrauriges Image, mehr Klischee denn Realität angesichts dieser erschütternden Naturschönheit – einer kratzbürstigen Melange aus Superlativen, kärgsten Weiten, kahlsten Gipfeln, grünsten Tälern, mildestem Klima, weißesten Stränden. Wer allerdings auf Korsika sowieso den Blues hat, kann den schwermütigen Gefühlen zwischen Sehnsucht und Melancholie kaum entgehen. Deren Wurzeln gedeihen prächtig in dem Boden korsischer Geschichte, die meist von Entbehrung und Armut handelt, am stärksten jedoch von der alltäglichen Konfrontation mit dem Sterben, mit dem gewaltsamen Tod, mit Verfolgung und Unterdrückung, die ebenso von der Blutrache Vendetta geprägt ist – und von vielen Rebellionen.

„Gloria a te Yvan“, gesprüht in Knallrot, steht an der gekalkten Mauer der Zitadelle zu Corti, dem „Adlerhorst“ auf steilem Fels. Yvan – das ist Yvan Colonna, der Untergetauchte, der dem französischen Präfekten Erignac vor anderthalb Jahren eine Kugel verpasste wie in alten Zeiten, als gegen die Kolonialisten weniger gebombt als geschossen, gedolcht und gesäbelt wurde. Nicht nur für die Untergrundbewegung ist Yvan ein Held. Auch die korsische Nationalpartei „Corsica Nazione“ sah keinen Grund, sich etwa von der Tat zu distanzieren: Die Partei erhielt bei den letzten Wahlen mit 23,45 Prozent der Stimmen ihr bisher bestes Ergebnis bei den Inselwahlen.

Wer offen oder auch klammheimlich Sympathie für Yvan riskiert, stellt auch kritische Fragen an Frankreich. Warum auf hundert korsische Einwohner ein Polizist kommt, zum Beispiel; auf dem französischen Festland ist das Verhältnis eins zu 252. Oder warum Paris immer noch nicht die EU-Konvention über „Minderheiten-Sprachen“ unterschrieben hat, und Korsisch auf Korsika – wenn überhaupt – als „Fremdsprache“ gelehrt wird. Oder warum die „Pieds noirs“, Fremdenlegionäre und deren Helfershelfer aus den verlorenen Maghreb-Kolonien, seinerzeit privilegiert angesiedelt wurden. Oder ... – die politische Tagesordnung wird in jüngster Zeit wieder stärker mitgeschrieben von der korsischen Freiheitsbewegung – auch wenn sich die Korsen jetzt mehrheitlich entschieden haben, bei Frankreich bleiben zu wollen.

Nicht ohne die Zukunft betreffende Hintergedanken gilt die historische Hauptstadt Corti als Zentrum der Feiheitsbewegung. In Corti regierte ab 1755 für vierzehn zwar kurze, doch umso geschichtsträchtigere Jahre die erste demokratische Volksversammlung der Welt, die „Consulta“. Aus gutem Grund avancierte damals der Reisebericht des Schotten James Boswell – „Historisch-geografische Beschreibung von Corsica nebst vielen wichtigen Nachrichten und Anekdoten vom Pascal Paoli, dem General der Corsen“ , so der zungenbrecherische Originaltitel des Werkes auf deutsch – zu den meistgelesenen Büchern seiner Zeit. Das liberale Bürgertum und die Philosophen der Aufklärung drängten auf die Überwindung feudalistischer Machtstrukturen. In Korsika und dessen „Babbu di a patria“ genannten Nationenvater Pasquale de Paoli fanden sie viel gepriesene Vorbilder.

Jahrzehnte vor der französischen Revolution erschütterte das korsische Experiment die europäische Öffentlichkeit, und Boswell kommentierte: „Ganz Europa wirft die Augen auf sie und sieht mit Erstaunen, wie sie im Begriff stehen, sich einem fremden Joche auf ewig zu entreißen und ein freies und unabhängiges Volk zu werden.“ Eine Korsika-Begeisterung entstand. Großbritannien stellte sich gegen das spätmonarchistische Frankreich und dessen koloniale Gelüste: Ein breiter Strom von Hilfsgeldern, Waffen und Freiwilligen eilte den Korsen zu Hilfe gegen den Angriff unter Louis XV. – letztlich vergeblich, denn 1769 unterlagen Paolis Truppen bei Ponte Nuovo.

Eine Eisenbahnstation vor Ponte Nuevo, in Ponte Leccia, erwartet den Zugreisenden das Bild einer Goldgräberstadt nach dem großen Rausch. Zersiedelt und öde liegt der Ort inklusive römischer Brücke in der Sonne. Von hier aus führt eine Straße in Paolis Heimatdorf Morosaglia, auf dessen Ortsschild durch Überpinseln zweier Buchstaben nun der korsische Name steht: „Merusaglia“. Inmitten einer grandiosen Mittelgebirgskulisse mit ausgedehnten Kastanienwäldern, in denen es sich Wildschweinherden gut gehen lassen – also sich selbst ungewollt zur würzigen Delikatesse fressen – steht Paolis Haus am Hügel, ein kleines Museum mit einer Boswell-Erstausgabe und dem ältesten auf der Insel gedruckten Buch „Rechtfertigung der Revolution auf Korsika“ von 1764. In der Kapelle nebenan befindet sich Paolis Grab – gestorben 1807 im Londoner Exil wurde sein Leichnam 1889 überführt und beigesetzt. Er selbst hatte gemeint, wenn das korsische Experiment gut ausgehe, würden die Korsen als „Verteidiger der Freiheit“ angesehen, wenn es scheitere, als „unglückliche Rebellen“. Sie blieben Rebellen.

„Arret Facultatif“: Hinter Ponte Leccia hält der „train malin“ auf Anforderung. Eine junge Frau mit Rucksack und Stirnband springt hinaus und verschwindet hinter der Station im Gebirge. Eine Wanderin? Eine Freundin Yvans vielleicht, auf dem ruppigen Weg durch die Macchia? Meine romantischen Gedanken von Banditen und Rebellen drehen Kopfrunden bis zum lang gezogenen Signalpfiff des „train malin“ vor dem letzten Tunnel der 232 Kilometer korsischer Eisenbahnkilometer bei der Endstation Bastia. Oberhalb der Röhrenöffnung ist das korsische Nationalsymbol eingelassen, Maurenkopf mit markantem Profil. Ob das Stirnband wie auf der Nachbarinsel Sardinien ursprünglich als Zeichen der Sklaverei um die Augen gebunden war, ist umstritten. Dass es seit Paolis Zeiten die Stirn schmückt, nicht: ein Sinnbild für Freiheit.