Mit Pyramiden gegen die Übel der Welt

Alexander Golods Bauten geben in ihrem Innern angeblich eine Energie ab, die vor Verbrechen, Krankheiten, Naturkatastrophen und Kriegen schützt. Der Experimentator will den verkrümmten Raum wieder geradebiegen  ■ Aus Moskau Barbara Kerneck

Die Moskauer sind davongekommen. Sie sind im Frühsommer gelandet, ohne daß auf dem langen Marsch durch den Winter auch nur ein einziger von ihnen an der Hongkong-Hühnergrippe erkrankte. Dank ihrer Massenmedien wissen sie, wer die Seuche von ihnen abwendete: Alexander Jefimowitsch Golod (49) hat ihre Stadt immunisiert, durch einen Schutzkreis aus Backsteinen, die er entlang der Umgehungsautobahn vergrub. Es waren Steine aus der Pyramide.

Golod (der Name bedeutet zu deutsch Hunger) hat den Raum der ehemaligen Sowjetunion bereits mit gut fünfzehn Pyramiden bestückt. Er legt Wert auf die Feststellung, daß die Proportionen einer jeden dem Goldenen Schnitt entsprechen. Nur so entwickeln sie in ihrem Inneren jene Energie, mit der ihr Erbauer zum Beispiel die im Winter um Moskau benutzten Backsteine auflud. Nach der Umziegelung des Herrn Hunger kann es mit der russischen Hauptstadt nun nur noch aufwärtsgehen.

„Schon heute sinkt die Verbrechensrate. In ein paar Jahren wird Moskau vergessen haben, was das ist – Krebs oder Aids“, sagt Alexander Jefimowitsch. Er sitzt im Büro der Firma „Gidrometpribor“, deren Besitzer und Generaldirektor er gleichzeitig ist. Die Gidrometpribor baut meteorologische Meßgeräte für Kriegs- und Raumschiffe. Seit zwei Jahren hat sie dafür vom Verteidigungsministerium kein Geld mehr erhalten. Deshalb türmen sich im Hof Autoreifen, mit denen Golod jetzt handelt.

Sein Büro ist ärmlich möbliert, läßt aber an moderner Bürotechnik nichts vermissen. In dieser Hinsicht gleicht das Büro seinem Inhaber – bescheiden gekleidet, aber in der Substanz seiner Zeit voraus. Auf speziellen Ständern steht Informationsmaterial über die modernen russischen Pyramiden. Mit ihnen haben sich allein im Lande selbst schon über 30 Fernsehsendungen beschäftigt. Über die Pyramiden und ihren Erbauer brachten fast alle großen Moskauer Tageszeitungen seit Anfang dieses Jahres seitenfüllende Reportagen – die meisten im Tone ehrfurchtsvollen Staunens.

Dabei flackert aus Golods Augen keineswegs der Größenwahn, sie blicken eher melancholisch drein. Die leise Stimme des 49jährigen verrät die Trauer darüber, daß die törichte Menschheit über Jahrtausende die heilbringenden Geheimnisse der Pyramiden vergessen hatte. Gestikulierend und redend nimmt er sich selbst zurück, als müsse er sich dafür entschuldigen, gegen die Hauptprämisse der Sowjeterziehung zu verstoßen, gegen das Gebot: Tanz nicht aus der Reihe! Vor uns sitzt gewiß kein gerissener Geschäftsmann. Statt seine Gewinne zu reinvestieren oder zu verschleudern, setzt Alexander Jefimowitsch sie in den Lehm.

Seine erste Pyramide baute er vor zehn Jahren auf einem Acker bei Saporoschije in der Ukraine. Dort arbeitete er damals bei den Juschmasch-Raketenwerken. Der Rüstungsingenieur hatte gelesen, daß in jeder Pyramide, deren Proportionen dem Goldenen Schmitt entsprechen, die Kadaver kleiner Tiere, die in ihrem Inneren verendeten, automatisch mumifiziert werden.

Und dann war da der „Rasierklingenschleifer Cheops“. Unter dieser Bezeichnung hatten in Golods Jugend Hausierer Pyramidenmodelle angeboten. Er erinnerte sich, daß Rasierklingen, die man ein paar Tage hineinlegte, tatsächlich wieder scharf wurden. In Saporoschieje wollte Golod sehen, was eine Pyramide sonst noch alles kann – und erntete erst einmal ein Feld voller armdicker Gurken.

Der Wunsch, die hauptstädtische Bürokratie für seine neuen Projekte zu interessieren, bewegte den Erfinder zum Karrieresprung nach Moskau. Vierhundert Kilometer nördlich der russischen Hauptstadt, am See Seliger im Waldaj-Gebirge, hat er seine bisher größte und liebste Pyramide errichtet. Sie kostete ihn eine Viertelmillion Dollar aus eigener Tasche, ist 22 Meter hoch und aus glasfaserverstärktem Plastik. Der Generaldirektor zeigt Besuchern im Gidrometpribor-Büro gern einen Videofilm, der dort mitten im Winter aufgenommen wurde.

Da ist zu sehen, wie er eine Mineralwasserflasche vom Pyramidenfußboden ans Licht hebt. Sein Gesichtsausdruck beweist, daß auch er kindlich-glücklich lächeln kann: dank der wunderbaren Pyramidenkraft ist das Wasser flüssig geblieben – bei minus siebzehn Grad! Dann schüttelt der Video- Golod die Flasche, und ihr Inneres erstarrt in Sekundenschnelle zu Eis.

Nichts kann uns mehr halten. Auf zum See Seliger! Auf Golods Fersen zur Pyramide! Endlich in ihrem Bauche geborgen, umgibt uns dank der Plastikkonsistenz der Wände ein bernsteinfarbenes Leuchten. Durch die offene Spitze fällt ein Himmelsstrahl auf eine Art Mini-Stonehenge in der Mitte des Gebäudes und Dutzende von halb im Erdboden vergrabenen Mineralwasserflaschen. Golod mag zwar Obelix nicht kennen, aber mit Hinkelsteinen steht er auf du und du. In seinem Moskauer Vorzimmer hält er stets zehn- bis zwanzigtausend pastellfarbene Quarzsteinchen für Heil- und Heilungssuchende bereit. Kostenlos, versteht sich. Hier, in der Pyramide am See, lädt er sie kistenweise auf. Erst jüngst hat Golod einen Ziegelsteinkreis um die Kremlmauer gelegt, von dem aus sich jetzt über der Zitadelle der Macht eine virtuelle Pyramide aufbaut. Auf die Frage, ob sich in der russischen Politik schon Auswirkungen zeigen, geht er lieber nicht ein.

Was die quasi genetische Speicherung der Pyramideninformation betrifft, wetteifert das Gedächtnis der Steine mit dem Geist von allerhand Flüssigkeiten. Das beginnt bei einfachem Mineralwasser und endet bei diversen Arzneien. Ja, auch Wodkaflaschen haben in der Pyramide ihren Platz. Seltsamerweise würden von dem Wodka, der hier lange genug gelegen habe, Alkoholiker geheilt, sagt Golod. Und schulterzuckend fügt er hinzu: „Manches, was sich in der Pyramide ereignet, gehört eben in den Bereich der reinen Phänomenologie. Mit anderen Dingen wieder lohnt es sich zu experimentieren.“ Der unentwegte Experimentator holt Tabellen aus der Aktentasche. Sie demonstrieren, wie sich die Lebensfunktionen von Frühgeborenen nach Verabreichung von in der Pyramide gelagerter Infusionslösung rapide intensivieren.

Wir wenden uns wieder dem Wasser zu. Obwohl die Bodentemperatur bei unserem eigenen Pyramidenbesuch nur noch um die null Grad betragen kann, stoßen wir zu unserer Enttäuschung auf eine eisgefüllte Mineralwasserflasche nach der anderen. Golod beruhigt uns: Er habe sie ja erst unlängst alle geschüttelt.

Im Dorf Chitino nahe dem See Seliger locken die einladend leuchtenden Fensterchen eines heimeligen Holzhäuschens hin und wieder einen erschöpften Autofahrer von der Landstraße. Hier wohnen die Kotomins, Juri Jakowlewitsch und Jekaterina Danilowna, ein Pensionspärchen Anfang 60. Schlicht gekleidet, leben die beiden voller Eintracht mit sich und ihrem Datschengrundstück. „Wir brauchen nichts zu kaufen und lassen niemanden unbewirtet“, sagt Jekaterina Danilowna zufrieden. Stolz zählt sie die Gaben ihres Gartens und ihres Hühnerstalles auf. Privilegiert fühlen sich die beiden auch in Hinblick auf die Pyramide. Sergej, der einzige Bauer im Ort, benutzt ihre Sauna mit. Wenn Golod fortfährt, gibt er Sergej die Schlüssel zur Pyramide. Und folglich trinken Juri Jakowlewitsch und Jekaterina Danilowna täglich Pyramidenwasser.

Manche der Pensionäre im Dorf erklären die Pyramide für Teufelszeug, und einer droht bisweilen, sie in die Luft zu sprengen. Aber Jekaterina Danilowna glaubt, daß das Wasser sie gesund erhält: „Beweisen kann ich es natürlich nicht.“ Eigentlich denken sie und ihr Mann ja wissenschaftlich. Als Arzt und Pharmazeutin haben sie jahrelang an der rauhen Kolyma gewirkt. Da sie nun über Zeit und Muße verfügen, führen sie ihre eigenen Pyramidenexperimente durch.

Im Wohnzimmer zieht Jekaterina Danilowna dieses Jahr Tomatensetzlinge aus Samen, die in der Pyramide gelagert wurden und eine „Kontrollgruppe“ aus nicht pyramidial behandeltem Saatgut. „Die Pyramide“, sagt Juri Jakowlewitsch abgeklärt, „hat ihre Existenzberechtigung, genau wie die Kirche. Als Atheist glaube ich, daß die Religion vor allem durch die Autosuggestion der Gläubigen wirkt. Aber deshalb bekomme ich noch keine Krämpfe, wenn ich mich mal mit dem Popen unterhalte. Und daß das Pyramidenwasser irgendeine Wirkung hat – das will ich mal zulassen“.

Doch Golod will mehr, als nur toleriert werden. Er hungert nach wissenschaftlicher Anerkennung. Außerdem bombardiert er alle möglichen politischen Instanzen mit Material, vom Sicherheitsrat bis zur Administration des Präsidenten. „Pyramiden in den Proportionen des goldenen Schnittes als Lebensgenerator“ heißt seine letzte Denkschrift. Wenn auch die Reaktionen noch auf sich warten lassen – Alexander Jefimowitsch gibt zu erkennen, daß er sich bei aller Bescheidenheit seiner Sache doch sehr sicher ist. Regierungsunterstützung fordert er nur deshalb an, weil er die dringend notwendige „Arbeit mit größeren Territorien“ allein nicht bewältigen kann. Da gelte es, Kamtschatka und Japan durch ein paar gezielt plazierte Pyramiden erdbebenfrei zu machen und Konfliktzonen, wie Tschetschenien, auf ewig zu befrieden.

„Das ist ja nun wirklich schon lange bekannt, daß es geopathologische Zonen gibt“, erklärt der Generaldirektor auf fragende Blicke hin gelangweilt: „Für die Konflikte in Ulster oder im Kosovo sind die Einwohner dieser Gebiete nicht verantwortlich. Wenn man sie alle evakuierte und dort Inder oder Chinesen ansiedelte, würden die sich in ein bis zwei Jahren genauso auf die Waffen stürzen. Naturkatastrophen, Kriege und Krebsgeschwüre haben alle einen gemeinsamen Grund. Seit der von uns als Goldenes Zeitalter bezeichneten Epoche verkrümmte sich der Raum.“ Mit Hilfe seiner Pyramiden und Hinkelsteinkreise hat Alexander Golod den nicht nur in unserem Jahrhundert stark deformierten Raum über dem europäischen Rußland schon fast wieder geradegebogen. Aber Mitteleuropa könnte noch ein paar trübe Tage erleben.