■ Die Weihnachtszeit dauert zwölf lange Tage – vom 25. Dezember bis zum 6. Januar. Sie galt stets als unheimlichste Frist des Jahres – weil in ihr Zauber und Depression zugleich ausgehalten werden müssen Von Thomas Macho
: Kevin bleibt allein zu Hause

Alt sind die Mythen, die vom Anfang des Heiligen Fests berichten. Sie handeln von Kulten, Kindsmorden und der Hoffnung auf ein Morgen. Ungewiß ist nur: die Zukunft Weihnachtens.

Das christliche Weihnachtsfest wurde im 4. Jahrhundert eingeführt. In der Diskussion um seine Ursprünge wurden zahlreiche Festpraktiken gewürdigt, die mehr oder weniger deutliche Spuren im Zeremoniell hinterlassen haben könnten: die römischen Saturnalien, Freudenfeste, die am 17. Dezember begannen und am 24. Dezember ihren Höhepunkt erreichten, der Korekult in Alexandria (mit der Feier der Geburt des Aionknaben in der Nacht vom 5. zum 6. Januar), die persischen Mithras-Mysterien, die kurzfristig ins Zentrum des Römischen Imperiums vorzudringen vermochten, das jüdische Chanukka-Fest, das an die Tempelneueinweihung nach dem Aufstand der Makkabäer – also an die glückliche Zurückdrängung griechischer Einflüsse – erinnern sollte, und schließlich die römische Verehrung des Sol invictus, des Geburtstags der unbesiegten Sonne, der (wie der Geburtstag des Lichtgottes Mithras) am 25. Dezember gefeiert wurde.

Zur Weihnachtszeit, der Zeit der Wintersonnenwende, kollidierten demnach Sonnenfeste und Geschichtsfeste, astralkultisch und nationalreligiös motivierte Zeremonien. Um den Zentralsatz des Johannesevangeliums – „Und das Licht leuchtet in der Finsternis“ – ging es wohl allen Strömungen, unabhängig davon, ob sie das Licht in Gestalt des Sonnengottes oder in Gestalt des Kerzenfeuers (wie im Chanukka-Fest) verehrten. Doch in ihren Konsequenzen unterschied sich die Buchreligion von der Gestirnreligion. Den mythischen Lehren von der „Ewigen Wiederkehr des Gleichen“ antwortete die Eschatologie; den Machtansprüchen der Sonnenkaiser – von Aurelian bis Ludwig XIV. – antwortete die Hoffnung auf einen Messias und dessen Erscheinung, die Epiphanie.

Das Weihnachtsfest etablierte sich im Horizont verschiedener Zeremonien zur Wintersonnenwende, genauer gesagt: in Nachfolge und Konkurrenz zu traditionellen Geburts- und Wiedergeburtsfesten. Bei diesen Festen wurden Rituale veranstaltet zur Umkehrung des Todes in eine neue Geburt – Rituale, die nicht nur die faktischen Nöte und Schmerzen zu inszenieren pflegten, die während jeder Geburt das Kind und die Mutter gefährden, sondern auch jene Todesdrohung, die den bereits Geborenen in Gestalt der Zugehörigkeitsfrage und in Gestalt der Opferforderung gegenübertreten konnte.

Die opfernde Kindstötung zählte zu den Praktiken vieler Vegetationskulte, was die mythischen Erzählungen über Kronos, Moloch oder Isaak bis heute bezeugen. Auch das Weihnachtsevangelium zitiert den Topos der Kindstötung. Die beschwerlichen Umstände der Reise von Nazareth nach Betlehem, die vergebliche Herbergssuche, die Kindsgeburt im Viehstall, schließlich der Kindesmord des Königs Herodes und die Flucht nach Ägypten wirken wie die Etappen einer erzwungenen Abtreibung.

Der Geburtsbericht nimmt den späteren Opfertod vorweg; nicht umsonst etablierten die Kirchenväter den Ausdruck natalis (Geburtstag) als Bezeichnung für den Todestag der Heiligen – weshalb Augustinus Mühe hatte, den Unterschied zwischen natalis domini und natalis Stephani zu erläutern: der erstgenannte Begriff meine zwar die Geburt Christi, der zweite aber den Tod des Erzmärtyrers. Auch Petrus Chrysologos versicherte, „daß sich der Geburtstag des Märtyrers nicht auf seine Geburt zum irdischen, sondern zum himmlischen Dasein beziehe“.

Auch darum mag es nicht verwundern, daß die Wintersonnenwende ursprünglich gar nicht in Verbindung gebracht wurde mit dem Geburtstag des Mannes aus Nazareth: Im 3. Jahrhundert zitierte Klemens von Alexandrien Berechnungen, die das Geburtsdatum Christi auf den 20. Mai fallen ließen. Hippolyt von Rom vertrat in seinem Osterkanon von 222 den 2. April. Die römische Schrift „De pascha computus“ von 243 favorisiert den 28. März.

Bis ins 4. Jahrhundert hinein wurde die Geburt Christi in der Ostkirche – also in Ägypten, Jerusalem und Syrien – am 6. Januar gefeiert: Geburt und Epiphanie (die Taufe Jesu im Jordan) wurden auf den selben Termin gesetzt, weil man glaubte, Jesus sei zum 30. Geburtstag getauft worden. Kurz vor dem Ende der Regierungszeit Konstantins – erstmals bezeugt für das Jahr 336 – wurde schließlich das Geburtsfest des Begründers einer neuen römischen Staatsreligion auf den Tag der Wintersonnenwende verlegt.

Damit konnte der antike Sonnenkult, in dessen Rahmen seit Kaiser Aurelians Sieg über Palmyra im Jahre 274 die Wiedergeburt der unbesiegten Sonne am 25. Dezember zelebriert wurde, mit dem Festkalender der christlichen Religion verschmolzen werden. Wenig später einigten sich Ostkirche und Westkirche darauf, den 25. Dezember als Geburtsfest und den 6. Januar als das Tauffest Christi zu begehen.

Weihnachten ist also im Grunde ein archaisches Vegetationsfest – in der Tradition der Saturnalien, dieser ursprungsmythischen Inszenierungen einer „verkehrten Welt“ zu Ehren des Saatgottes, und natürlich auch in würdiger Nachfolge der in zahlreichen Kulturen verbreiteten Riten anläßlich der Wintersonnenwende, die der Aufrüstung des geschwächten Zentralgestirns dienen sollten.

Schon der Ausdruck „Weihnachten“ bezeichnet nicht nur einen einzigen Tag, sondern vielmehr die zwölf Nächte zwischen dem 25. Dezember und dem 6. Januar – die Zeitspanne zwischen dem Aufgang der unbesiegten Sonne und jener Geburtsfeier des Gottes Aion in Alexandrien, aus der vermutlich das Epiphaniasfest im zweiten Jahrhundert entstanden ist. Als Vegetationsfest zählt Weihnachten auch zu den Astralfesten – was sich nicht zuletzt an der prominenten Stellung des Sterns von Betlehem und an der Geschichte vom Krippenbesuch der drei Könige und Sterndeuter demonstrieren ließe.

Mit anderen Worten: Die Weihnachtsfeier ist Ausdruck jener kultischen Kompromißbereitschaft, die eine universelle Ausbreitung der christlichen Religion überhaupt erst ermöglichte. Nicht umsonst haben die Theologen meist gegen Weihnachten polemisiert – zum Beispiel in diesem Jahrhundert Karl Rahner: „Es ist jedes Jahr dasselbe: Etwas ,Stimmung‘, einige fromme und humanitäre Phrasen, ein paar aufwendige Geschenke (mit der Mühe, sich nachher dafür zu bedanken). Und dann geht alles weiter wie bisher. Wenn man ein Christ ist, hat man die Pflicht, sich über diesen Weihnachtszauber nichts vorzumachen.“

Damit ist das Stichwort gefallen – Weihnachtszauber. Tatsächlich galt die Weihnachtszeit stets als die unheimlichste Frist des Jahres. In den zwölf Nächten durften die Geister der Toten durch die Dörfer toben, während die Seelen verstorbener Kinder auf Friedhöfen und verlassenen Wegen irrlichterten. Noch im 11. Jahrhundert versuchte die Kirche, diese Vorstellungen mit ihrer eigenen Höllenmythologie zu verschränken.

Jeder Tag des sogenannten Dodekahémerons – die Feier der zwölf Tage – wurde auf einen Monat des kommenden Jahres bezogen und wahrsagerisch ausgelegt. Mitten in der „Zeit zwischen den Zeiten“, am 28. Dezember, wurde schließlich das Fest der Unschuldigen Kinder begangen: Gedenktag eines phantasmatischen Kindermords, der von keiner verläßlichen Quelle bezeugt werden kann. Lediglich das Matthäus-Evangelium kannte die merkwürdige Geschichte von der Ermordung aller kleinen Kinder Betlehems.

Vielleicht als kontrapunktische Mythologie zum Buch Exodus, das bekanntlich die Flucht aus dem Reiche des Pharaos mit der Erschlagung aller ägyptischen Erstgeborenen beginnen ließ. Nun mußte die „Heilige Familie“ nach Ägypten fliehen, während Herodes befahl, „in Betlehem und der ganzen Umgebung alle Knaben bis zum Alter von zwei Jahren“ auszuforschen und zu töten.

Im Fest der Unschuldigen Kinder setzt sich das Zentralmotiv älterer, agrarisch- vegetativer Wintersonnwendkulte neuerlich durch: Die Erinnerung an den Kindsmord, der gleichsam zwischen der natürlichen Geburt (in der Nacht vom 24. zum 25. Dezember) und der sozialen Geburt (der Epiphanie am 6. Januar) verhängt zu werden droht. Vielleicht ist es kein Zufall, daß die mächtigste Konvention des Weihnachtsfestes, nämlich die Beschenkung der Kinder durch das „Christkind“, auf die Bräuche des Unschuldigkindleintages zurückgeführt werden kann: auf die saturnalische Praxis der Klöster, einen Kinderbischof zu ernennen, der an diesem Tag die Herrschaft über Schule, Kloster und Kirche ausüben und mit seinem kindlichen Gefolge die Gaben und Geschenke der Gemeinschaft – wie eine Art von Steuer – eintreiben durfte.

Die Bescherung der Kinder wurde gleichsam als Entschädigung für versuchten Kindsmord eingeführt... Erst nach dem Ende des 13. Jahrhunderts wurde der Umzug des Kinderbischofs auf das Nikolausfest (am 6. Dezember) verschoben und zunehmend pädagogisch entschärft. Die Gestalt des Heiligen konnte sich hingegen vom 19. Jahrhundert an wieder zum Personal der Weihnachtstage gesellen – und begann als Weihnachtsmann das Christkind abzulösen. Fast als würde die Verdrängung des Kinderbischofs durch einen pädagogisch geschulten Prediger und die Verdrängung des Christkinds durch einen Weihnachtsmann das phantasmatische Kindsopfer unbewußt wiederholen: Kevin bleibt allein zu Hause...

Vielleicht nähern wir uns aber auch einer Entropie des Weihnachtsfestes, das seinen kulturellen Sinn als Wiedergeburtszauber spätestens seit den Kriegsweihnachtsinszenierungen der beiden Weltkriege eingebüßt hat. Weihnachten ist zum Fest des Familienkonsums und der hartnäckigen Depressionen geschrumpft – symbolisiert durch einen mysteriösen „Zauberbaum“, der sich erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts ins europäische Brauchtum einzuschmuggeln begann.

Wollte man demnächst ein Plebiszit über die Abschaffung des Weihnachtsfestes veranstalten: Ich wüßte nicht hundertprozentig, mit welchem Ergebnis gerechnet werden sollte. Einerseits ist – Jahr um Jahr – eine dramatische Steigerung von Weihnachtsunlust, Weihnachtskitsch und Weihnachtsflucht (auch und gerade bei den Kindern) zu beobachten; andererseits eine gleichfalls zunehmende Abhängigkeit unserer Ökonomie – zumindest einiger Schlüsselbranchen – von der Durchführung dieses letzten Verschwendungsfests in unserer Kultur.

Ich weiß nicht, ob es möglich wäre – wohlgemerkt: auch bei einem überwältigenden Votum gegen den Heiligen Abend –, auf die Feier der Weihnachtstage zu verzichten. Zwischen Anfällen von Gefräßigkeit oder Melancholie läßt sich allerdings immer deutlicher wahrnehmen, daß wir kein Fest der Wiedergeburt mehr begehen, sondern allenfalls ein Fest der vorgeburtlichen Ambivalenz. Die Verkehrung der Welt, die Erfahrung der „Zeit zwischen den Zeiten“ mag nicht mehr glücken. Gelegentlich macht sich eine drückende, schmerzliche Enge bemerkbar, die selbst den schönsten Tannenbaumliedern nicht weichen mag.

Thomas Macho ist Professor am Institut für Kulturwissenschaften an der Humboldt-Universität in Berlin.