Zuweilen ein Vers

Der Lyriker Leidel, die Edition Literarischer Salon und ihr „Lesebuch Mittelhessen“  ■ Von Marie-Luise Bott

Als Hans Joachim Leidel seine Gedichte schrieb, kostete ein Brief 20 Pfennig. Das vermerkt sein Gedicht Das Chromosom ist eine Kirche. Es ist — wie alles bei Leidel — randvoll mit zielsicher verdichteten Realitäten. „Sie sagen: Chromosomen sind verlängerte Finger Gottes./ Und sie freuen sich: Gottes Finger sind erforschlich./ Halleluja“, und: „Ich glaube nicht an diese Fingerabdrücke Gottes/ und sage:/ Der Mensch ist das, was er umgreift mit der Hand,/ Marschall- oder Bettelstab/ ...das Leben selbst arbeitet an meiner Erkennungsmarke/ ...in kein Chromosom eingeritzte Katastrophen prägen mich./ Mich prägt auch der lustige Pfiff eines Schlossers/ in Cottbusravennamagnetogorsk/ ...das Cellospiel Pablo Casals',/ das Spanien von den Faschisten befreien wird,/ wie ich sicher weiß,/ wie ich ganz sicher weiß,/ denn ich verstehe mich auf den Ernst eines Mannes,/ der Heimweh hat.“

Als ich das las, kostete ein Brief eine Mark. Leidel schrieb seine Gedichte zwischen 1945 und 1962. Pictures of Life and Death eines 1915 in Angermünde in der Uckermark geborenen, 1950 an mittelhessischen Quer- und Dickschädeln gescheiterten und 1962 in Gießen gestorbenen Arztes und Poeten.

Leidel verlor früh den Vater, entwischte früh dem Internat und schrieb früh für die Zeitung. In Berlin und Heidelberg studierte er Medizin. Dann mußte er als Sanitäter in den Krieg. Das Examen machte er zwischendurch 1944 in Gießen. Leidel haßte den Krieg. Einem Gießener Buchhändler fiel er 1960 auf, weil er am Revers seines grünen Trenchcoats ein silbernes kleines durchbrochenes Gewehr trug. Nach dem Krieg ließ Leidel sich in Gießen nieder. Er war Arzt an der Hautklinik und Abgeordneter der Sozialdemokraten im Stadtrat.

1950 verließ er, wie es heißt, „nach einem Eklat unter Ärzten“ die Stadt und seinen Beruf. Den Hintergrund zu diesem „Eklat“ stelle ich mir mit Leidels Gedicht Auf dem Nebelweg etwa so vor: „In einer Stunde sind wir in Pisa,/ aha,/ der schiefe Turm,/ ein Oberarzt erinnert sich,/ Galileo oder Galileia,/ na is ja auch egal,/ radikal operieren — konservativ wählen,/ das ist schon immer mein Grundsatz gewesen,/ gewiß Herr Professor,/ dolce far niente,/ ein widerliches Volk.“

Leidel wurde freiberuflicher Autor. Seine Gedichte und Essays erschienen in den 'Frankfurter Heften‘, in 'Sinn und Form‘, in Alfred Anderschs 'Texte und Zeichen‘, Anthologien von Wolfgang Weyrauch und Hans Bender. Nach einiger Zeit kehrte Leidel nach Gießen zurück und lebte hier mit seiner Familie sehr zurückgezogen.

Die Lyrik von Hans Joachim Leidel hat da, wo sie engagiert und frech ist, weder Metrum noch Reim (Ausnahme: der Schlenderhannes), aber da, wo sie sich den persönlichsten Bezirken nähert, eine strenge musikalische Form. Ihr assoziativer Hintergrund ist weit. Er geht quer durch alle Stilbereiche und liebt das Spielerische, Surreale im Umgang mit der Sprache.

Leidel sagte gelegentlich, es genüge ihm, wenn er „fünf anständige Gedichte“ zusammenbringe und zehn Menschen fände, denen sie gefielen. Daß wir jetzt 25 seiner Gedichte — es soll noch Prosa und ein Hörspiel von ihm geben — in einem Bändchen lesen können, ist obengenanntem Gießener Buchhändler zu danken.

Gideon Schüler, Inhaber der Ricker'schen Universitätsbuchhandlung, gründete 1987 die „Edition Literarischer Salon“ Gießen. Ihr Konzept: Sie sammelt und veröffentlicht zum einen Texte von deutschen Emigranten — jüdischen, sozialistischen, welchen auch immer — der dreißiger Jahre. Das sind die sorgfältigen mit Nachwort und Lebenslauf versehenen Nachlaßausgaben von Siegfried Einstein oder Ruth Selke- Eissler, der Gedichtband Sprachwurzellos des heute in den Niederlanden lebenden Arztes Hans Keilson oder der von Hans Joachim Leidel. Es handelt sich da um ein Abtragen deutscher Altlasten, die gerade im hessischen Raum besonders lange und hartnäckig geleugnet wurden. Und es handelt sich um knappe konzentrierte Formen wie Essay, Feuilleton oder Gedicht, als hätte die Emigration nichts anderes zugelassen.

Zum anderen stellt die „Edition Literarischer Salon“ dieser älteren Generation eine junge Garde von Autoren, insbesondere Lyrikern gegenüber, die schon eine ganz andere Sprache sprechen: Harry Oberländer, Angelica Seithe, Peter Kurzeck und Roderich Feldes.

Der Coup ist Gideon Schüler aber 1989 mit der Herausgabe seines Mittelhessischen Lesebuchs Zwischen Unruhe und Ordnung gelungen. Es vereint beide Linien der Edition: Nachlaßveröffentlichungen von Emigranten oder „kritischen Bürgern“ und Reflexionen heutiger Töchter und Söhne über die ihnen vorangegangene Geschichte. Schüler bat 18 Autoren, die aus Hessen stammen oder dort leben, über ihre geistigen Väter nachzudenken und mitzuschreiben an einem deutschen Lesebuch für die Zeit von 1925-1960. Er hat es regional konzentriert auf sechs Kapitel: Kassel und das Waldecker Land, Vogelsberg, Marburg, Wetterau, Gießen, Butzbach und Friedberg; ein „Ausklang nach 45“ enthält das Hörspiel Werwolf von Roderich Feldes und ein weniger gutes Romankapitel Wir oder unsere seinerzeitigen Vorgänger von Manfred Kurzeck.

Herausgekommen ist da ein äußerst spannendes und spannungsreiches Hin und Her Zwischen Unruhe und Ordnung. Schicht um Schicht werden Verletzungen abgetragen, aber auch die Ausnahmen von der Regel dokumentiert. Horst Bingels knapper dichter Text Lehrer und Lehrer, die Marburg- und Butzbach- Gedichte von F.C. Delius oder Leidels lyrische Schlaglichter sind literarische Dokumente, die für einen Text wie den von Mechthild Curtius einfach keine Geduld mehr übriglassen.

Hervorragend aber ist alles Dokumentarische in diesem Band: die soziologischen Studien von Susanne Meinl über Friedrich Wilhelm Heinz und den Kampf gegen die Republik in Hessen 1920-25 und von Bruno Reimann überEntlassung und Emigration an der Gießener Universität nach 1933; die ausgezeichnet beschriebene Historiker-Akte Klibansky; die Spurensuche der ostdeutschen Blanche Kommerell nach ihrem westdeutschen Großonkel Max; der Wiederentdeckungen der Literaten Kurt Kersten, Ernst Glaeser, Fritz Usinger oder Henry Benrath. Kurzum: eines jener seltenen Gedichtbücher, das Lücken füllt und Widersprüchliches nicht verschweigt.

Hans Joachim Leidel: Zuweilen ein Vers, eine Formel... Gedichte. Edition Literarischer Salon, Gießen 1986, 9,80DM.

Gideon Schüler (Herausgeber): Zwischen Unruhe und Ordnung. Ein deutsches Lesebuch für die Zeit von 1925-1960 am Beispiel einer Region: Mittelhessen. Edition Literarischer Salon, Gießen 1989, Focus Verlag, 338 Seiten, 38DM.