Tod eines Wehrmacht-Richters

Längst Vergessenes und Verdrängtes wird vor dem Hamburger Landgericht wieder aufgerollt. Zwei DDR-Rentner, ehemals Antifaschisten, sind der Mordbeteiligung im Kriegsgefangenenlager Klaipeda angeklagt. Ein Prozeß, den erst die Wiedervereinigung ermöglichte.  ■ VON CLEMENS GRÜN

Es gibt Gerichtsprozesse, die bis zur Unsittlichkeit rechtsstaatlich sind. Prozesse, die von keinen anderen Wirklichkeiten mehr handeln als von jenen, deren Überleben nur zwischen Aktendeckeln oder, neuerdings, in elektronischen Datenbanken möglich sind. Menschen leben, überleben mit dem Fluch und dem Segen des Vergessens. Weshalb jene Ausschnitte von Wahrheit, die nur noch technisch, nicht mehr lebendig gespeichert sind, unmenschlich sein müssen. Also können Gerichtsprozesse, die ihre Berechtigung nur noch aus übriggebliebenen Aktenordnern ziehen, im Grunde ihres Wesens nur inhuman sein.

Ein solches inhumanes, ja unsittliches Gerichtsverfahren findet derzeit in Hamburg statt. Es geht um den Tod eines Oberstabsrichters der deutschen Wehrmacht in russischer Kriegsgefangenschaft vor bald einem halben Jahrhundert. Angeklagt sind nicht Nazis, keine Schreibtischtäter, keine Judenschlächter, keine Blutrichter. Angeklagt sind zwei Rentner, die damals Antifaschisten waren.

Dieses Verfahren vor der Großen Strafkammer 22 im Landgericht Hamburg wird, so weit ist abzusehen, das letzte seiner Art sein — der letzte Mordprozeß, der nicht nationalsozialistische Gewaltverbechen zum Gegenstand hat, und doch mit dieser Historie untrennbar verbunden ist. Ein Prozeß, der nur verständlich vor dem Hintergrund einer Schnittstelle zweier historischer Entwicklungen ist: Einer schleppenden und oft auch verschleppten juristischen Aufarbeitung von Nazi-Verbrechen — und der deutsch-deutschen Vereinigung.

Um die letzten Aburteilungen von Kriegsverbrechern nicht zu gefährden, hat der Bundestag zweimal die ursprüngliche Verjährung für Mord (einst 20 Jahre) um jeweils fünf Jahre verlängert. Anfang des letzten Jahrzehnts entschieden sich die politisch Verantwortlichen für einen Ausstieg aus der systematischen Verlängerung, Mord wurde für grundsätzlich nicht verjährbar erklärt. Nur Mord verjährt in Deutschland nicht. Weshalb die westdeutsche Justiz, hier: die Hamburger Staatsanwaltschaft, gleich nach der Vereinigung der deutschen Staaten am 3. Oktober 1990 in den Archiven nach alten, eigentlich schon abgelegten Fällen zu forschen begann. Zwei der Mordbeteiligung Beschuldigte wohnten, seit ihrer Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft, in der früheren sowjetischen Besatzungszone, der späteren DDR. Sie waren, wie andere ebenfalls Beschuldigte, die als verschollen oder verstorben gelten müssen, für die westdeutsche Justiz nicht greifbar gewesen — bis zum 3. Oktober 1990.

Die „Antifa“ im Lager Klaipeda

Rückblende. Nach der Kapitulation der Wehrmacht gehen Hunderttausende in die russische Kriegsgefangenschaft. Zehntausende von Angehörigen der Kurland-Armee, die auch in den baltischen Staaten wüteten — nach dem Einmarsch der deutschen Truppen in die lettische Hauptstadt Riga am 1. Juli 1941 haben von 60.000 Juden 59.000 nicht überlebt — kommen erst in das Übergangslager Telschei, mehrere tausend davon anschließend in das Lager Klaipeda in der Hauptstadt des Memelgebietes. Zusätzlich zum Hauptlager, in den Gebäuden einer Zigarettenfabrik, gibt es auch zahlreiche Nebenlager, zum Beispiel am Hafen und an den Eisenbahnanlagen. Unterhalb der russischen Kommandantur wird eine deutsche Lagerleitung aufgebaut. Der erste Lagerleiter, der Oberst Paul Adam, kann auch nach der vernichtenden Niederlage nicht von deutschen Tugenden lassen. Später wird er seine Aufgaben in einer Aussage so beschreiben: „Ich hatte im Lager für Ordnung, Disziplin und Sauberkeit zu sorgen.“

Neben jenen Gefangenen, die einem reaktionären Gedankengut treu geblieben waren und jenen, die nach dem verlorenen Krieg anfingen, erstmals über dessen politische Ursachen nachzudenken, gab es noch eine dritte Gruppe im Lager. Es waren politische Gefangene der Nazis, die die Todesmaschinerie der Konzentrationslager nur dadurch überleben konnten, daß sie sich zum Fronteinsatz meldeten — in Bewährungs- und Strafbataillonen wie dem 999er. Einer, der auf diese Weise überlebte, war der frühere kommunistische Reichstagsabgeordnete Willi Agatz. Der spätere KPD-Bundestagsabgeordnete und zweite Vorsitzende der Gewerkschaft „IG Bergbau“ in Essen baute, mit anderen im Lager Klaipeda, eine neue, parteiübergreifende Bewegung auf: die „Antifa“. Diese Antifa organisierte Kulturabende und Sportveranstaltungen — und politische Kurse. Weshalb eine deutsche Anklage mit dem sicherlich zufälligen, aber gleichermaßen instinktlosen Datum 8. Mai 1991 davon sprechen darf, daß es in Klaipeda „eine ,antifaschistische‘, d.h. kommunistische Agitations- und Aktionsorganisation“ gab.

Wahrscheinlich in der Nacht zum 4. Juli 1947 und ganz sicher brutal wurde in dem Hauptlager in Klaipeda der 43jährige Erich Kallmerten, Oberstabsrichter bei der deutschen Wehrmacht, umgebracht. Zuvor hatte es verschiedene Aktionen der Antifa gegeben. So ging man gegen die privilegierten Offiziere vor, die nicht zu arbeiten brauchten, dafür aber einen größeren Anspruch auf Lebensmittel hatten. Die Offiziere, einige Dutzend waren es im Hauptlager, die bis dato mit ihrer Normalfrisur herumlaufenden konnten, wurden unter Gewaltandrohung, dem einfachen Soldaten gleich, geschoren. Kallmerten war groß, schlank, wirkte überheblich und hatte eine Schmisse auf der linken Wange. Als fast einziger weigerte er sich, nach dem allgemeinen Abnehmen von Hakenkreuzen und Orden, auch noch seine Kokarden abzulegen — das Paradebeispiel für den unbelehrbaren Offizier. In dieser Phase soll, bei einer Durchsuchung der Offiziersbaracke, ein Tagebuch Kallmertens gefunden worden sein, in dem diverse, von ihm verhängte Todesurteile aufgelistet sein sollten. Die allgemeinen Agitationsreden über die Lagerlautsprecher, auch die speziellen Vorwürfe gegen Kallmerten, wurden schärfer, und die Stimmung schlug besonders hoch, als Kallmerten zu allem Überfluß von seiner Ehefrau eine Karte aus der Heimat bekommen haben soll, in der ihm für die Nachkriegszeit ein Bürgermeister- Posten in seiner Heimatstadt Husum angedient wurde. Doch ob Karl Ki., der erst vier Tage vor der Tat zum neuen Leiter der Antifa ernannt wurde, durch seine agitierende Funktion quasi automatisch zum Mordplaner, zum geistigen Anstifter gemacht werden kann? Und ob man den frühen Selbstbezichtigungen des Gerhard Bö., den überaschend viele Zeugen mit der Titulierung „Psychopath“ belegen und der sich kurz nach der Tat damit gerühmt hatte, zusammen mit Klaus We. die Tat ausgeführt zu haben, überhaupt glauben darf? Zumal eine Bestrafung durch die Sowjets damals nicht sehr wahrscheinlich war — und tatsächlich auch nicht eintraf. Kann man ferner einem Mann glauben, der im Moskauer Gefängnis die Mörderin Lenins getroffen haben will, die zudem sämtliche Schlüssel hatte und im ganzen Gefängnis frei herumlaufen konnte? Bö., der vor Kriegsende zur Roten Armee übergelaufen war und gegen die deutschen Besatzer kämpfte, lebt, so scheint's, in seiner eigenen Welt, in der er ein für die Gerechtigkeit kämpfender Held ist, und keinesfalls feige: „Ich war tapfer.“ So tapfer, daß er eine vermeintliche „Heldentat“, das Erschlagen eines Wehrmacht-Richters, nicht ganz allein einem anderen überlassen wollte — ein Trittbrettfahrer?

Im 50er-Jahre-Prozeß fehlten Beweise

In einem ersten Verfahren 1953 vor dem Hamburger Schwurgericht wurde der Filmvorführer Heinrich Be., der bei der Tat im 1000 Kilometer entfernten Lager Schmiere gestanden haben soll, mangels Beweises freigesprochen. Ein weiteres Verfahren, diesmal gegen den ehemaligen Lagerleiter Heinrich Mo., der die Tat gedeckt haben soll, wird schon 1952, wegen des „nicht hinreichenden Tatverdachts“ vom Hamburger Landgericht „außer Verfolgung“ gesetzt. Das Gleiche bei Hermann Be. 1956, auch seine Verfolgung wird wegen „mangelnden Beweises“ ausgesetzt. Doch jetzt, vier Jahrzehnte nach den ersten Verfahren, glaubt der Hamburger Oberstaatsanwalt Duhn, mehr beweisen zu können als seine Kollegen damals, hofft, daß die damals ungenügenden Belege heute für eine Verurteilung von Gerhard Bö. (der mit getötet haben soll) und Karl Ki. (der als Mordplaner verdächtigt wird) ausreichen werden. Und das, obwohl seit den Untersuchungen aus den fünfziger Jahren keine neuen Tatsachen, keine neuen Zeugen bekannt wurden. Und obwohl das Erinnerungsvermögen der früheren Zeugen ganz bestimmt in den abgelaufenen Jahren stark gelitten haben muß. Sieben von acht der ehemals Befragten leben heute nicht mehr oder werden nicht mehr befragt. Aber immer noch 33 lebende Zeugen will die Staatsanwaltschaft vor Gericht laden und weiter 53 Aussagen von Verstorbenen verlesen lassen. Das Gericht hat seinerseits in der ersten Hälfte der bisher auf 23 Termine anberaumten Hauptverhandlung (Aushang: „Ein Ende ist nicht abzusehen.“) ein knappes weiteres Dutzend Aussagen von sich aus für das Protokoll vorgelesen.

Zeugen der Kolportage

Doch auch diese Masse bedeutet noch lange nicht Klasse, und der Wert aller Zeugen, der lebenden und der toten, ob damals vernommen oder heute, tendiert bisher gegen Null. Das war schon vor Prozeßbeginn abzusehen, denn außer den Tätern war keiner dabei, als dem Kallmerten der Kopf eingeschlagen und die Gurgel durchgeschnitten wurde in der ehemaligen Offiziersbaracke, in einem ungenutzten Raum, in dem Maler gerade ihre Sachen über Nacht zwischenlagerten. Zwei, drei Zeugen sahen später, und auch nur kurz, den Leichnam; andere hatten später den Raum zu säubern von dem Blut und den Hirnresten, die bis zur Decke gespritzt waren. Aber keiner, außer den direkten Tatbeteiligten, keiner von den über 275 richterlich vernommenen Zeugen, die keine Zeugen sind, weil sie nichts wirklich bezeugen, konnte oder kann eine konkrete Aussage zur Tat machen. Alle, außer den Zeugen für die Folgen der Tat, können nur wiedergeben, was sie von anderen gehört haben. Über die Lagerlautsprecher beispielsweise, über die der russische Lagerkommandant am gleichen (?), am nächsten (?), am übernächsten (?) Tag die Namen der zwei Tatverdächtigen, Gerhard Bö. und Klaus We. (der heute als verschollen gilt), bekannt gibt. Können nur Gerüchte nachplappern, die im nachrichtenarmen Lagerleben begierig aufgenommen wurden. Und auch später, im zeitlichen Abstand zur Tat, ging, selbst bei späteren heimatlichen Kameradschaftsabenden, die Meinungs- und Legendenbildung weiter. Objektive Zeugen?

Jahre nach der Tat, von Anfang bis Mitte der fünfziger Jahre, werden auf Betreiben des Untersuchungsrichters beim Hamburger Landgericht zahllose Zeugen aufgetrieben und von ihm verhört. Richter Steckel, so sein Name, reist ein halbes Jahrzehnt quer durch die Republik und vernimmt fleißig. 275 Zeugenaussagen listen Steckel und sein sachbearbeitender Staatsanwalt Krischke schon 1952 auf — fast alle nicht nur polizeilich, sondern schon richterlich vernommen, zumeist von Steckel. Ob ihn die Rache für einen ermordeten Berufskollegen antrieb, können wir heute nur noch spekulieren — Steckel verstarb, zwei Jahre nach dem Ausscheiden aus dem Beruf, vor über zwanzig Jahren. Und doch spielt seine Person, seine Motivation und nicht zuletzt seine Verhörmethoden bei dem laufenden Prozeß eine zunehmend wichtigere Rolle. Denn in Struktur und Wortwahl sind die Aussagen oft zu verblüffend ähnlich, und so drängt sich, mit jedem weiteren verlesenen Alt- Protokoll, der Verdacht auf, da habe nicht jemand mit objektiver Absicht verhört, sondern unsicheren Zeugen vom Hörensagen souffliert. Da sagt der damalige Lagerarzt Dr. Heinrich Kohmann aus, er sei nach der Vernehmung durch Steckel „im Zorne weggegangen“. Kohmann, der, als Nichtkommunist, sich ebenfalls der Lager-Antifa und später, nach der Heimkehr aus der Kriegsgefangenschaft, Kurt Schumachers antikommunistischen Sozialdemokraten anschloß, bezeichnet sich auch heute noch als Antifaschist. Und steht damit im Gegensatz zu anderen wie dem Wächter des Lagergefängnisses („Karzer“) Hans Bohm, der schnell seine Betätigung in der Antifa verdrängt hat, entgegen seiner eigenen damaligen Aussage solches heute energisch bestreitet. Doch Dr. Kohmann, der auf seinen eigenen Erkenntnissen auf dem Geschehenen besteht, gerät bei Steckel an den Richtigen: „Als ich dem gesagt habe, ich sei immer noch Antifaschist, war der unzufrieden mit mir.“

Ähnliches hat auch der Polizeibeamter i.R. Herbert Wagner mit Steckel erlebt. Schon in Hamburg, nach einer Überführung des Angeschuldigten Hans Be. ins hiesige Untersuchungsgefängnis, nahm Steckel ihn und seinen mitgefahrenen Kollegen Wilhelm Elsässer „beiseite“, verhörte ihn dann später offiziell in Mannheim. Bei diesem Verhör sei er von Steckel zwecks einer (günstigen?) Aussage „bekniet“ worden: „Ich möchte nicht behaupten, daß der Richter zum Zuge kommen wollte, aber anderseits...“ Der Zeuge läßt das offen, und teilte nach dem Verhör auch seinem Kollegen mit, daß ihm das Verhör „nicht gefallen“ habe. Als Polizeibeamter habe man öfters mit Prozessen und Vernehmungen zu tun, aber: „Ich kann mich nicht erinnern, daß ich je so eine Vernehmung erlebt habe.“ Das Gericht unter seinem Vorsitzenden Dr. Erdmann hat schnell auf die Hinweise der Zeugen reagiert und eine noch lebende Protokollführerin von Steckel ausfindig gemacht. Von ihr erhofft man sich Auskunft über die die Art der Fragen und das Zustandekommen der jeweils maschinengeschriebenen Protokolle. Interessant auch, daß keiner der heute Befragten sich noch erinnern kann, wie seine Unterschrift unter das Protokoll gekommen ist.

Ein Schlafender als Gerichtsgutachter

Eine wichtige Rolle werden im Laufe der weiteren Verhandlungen auch die Untersuchungen über die Verhandlungs- und Schuldfähigkeit von Gerhard Bö. spielen, die der Direktor der Abteilung für Gerichts- und Kriminalpsychologie beim Universitätskrankenhaus, Professor Horn, im Dezember vornehmen wird. Ein erstes Gutachten von Dr. Pinski, der im Zentralkrankenhaus des Untersuchungsgefängnis Hamburg beschäftigt ist, scheint dem Gericht ob seiner vielen sachlichen Fehler zur Beurteilung nicht auszureichen. Kurzfristig wurde Prof. Horn zum Verfahren hinzugebeten. Doch seine ersten Aussagen, „selbstverständlich“ ließe sich noch vier Jahrzehnte nach der Tat die Schuldfähigkeit eines Beschuldigten nachträglich feststellen, lassen nichts Gutes ahnen — seit wann ist Psychologie eine exakte Wissenschaft? Über die Verhandlungsfähigkeit wird der Professor eine noch unpräzisere Aussage machen müssen. Nur einmal war er, zur Beobachtung von Bö., während der Verhandlung physisch anwesend. Wiederholt mußte er allerdings geweckt werden.