„Anerkennen, daß Unrecht geschehen ist“

■ Taz-Gespräch mit dem Sprecher der Interessengemeinschaft ehemaliger Zwangsarbeiter, Alfred Hausser (77), über den Skandal, daß bis heute kein(e) einzige(r) nichtjüdisch(e) Zwangsarbeiter(in) aus dem Dritten Reich entschädigt worden ist / Mitverantwortlich sei die Restauration nach dem Kriege

Alfred Hausser wurde 1936 vom Volksgerichtshof Berlin wegen „Vorbereitung zum Hochverrat“ zu 15 Jahren Zuchthaus verurteilt. Als Mitglied des illegalen kommunistischen Jugendverbandes war er mit der Aufgabe betraut gewesen, Jugendgruppen gegen das Naziregime zu organisieren. Bis Kriegsende mußte Hausser als politischer Gefangener Zwangsarbeit für die Stuttgarter Firma Bosch leisten. Wie 70 weitere deutsche und französische Zwangsarbeiter erhielt er dort für einen Zwölf-Stunden-Tag 40 Pfennig.

taz: Wann haben Sie erstmals von der Firma Bosch eine finanzielle Entschädigung gefordert?

Alfred Hausser: Im Mai 1945 bin ich auf Umwegen wieder nach Stuttgart zurückgekommen. Der damalige Betriebsratsvorsitzende Eugen Eberle von Bosch ging mit mir zu Direktor Fischer und erklärte ihm, er wolle den billigsten Arbeiter der Firma Bosch vorstellen. Direktor Fischer hat nicht widersprochen, er meinte aber, Bosch sei die falsche Adresse, ich solle zur Gestapo gehen, denn die habe mich verhaftet.

Ich bin damals davon ausgegangen, daß personelle Veränderungen passieren, daß im Rahmen der Entnazifizierung der Direktor Fischer sowieso irgendwann gehen muß. Ich hatte konkrete Vorstellungen vom demokratischen Neuaufbau. Geld spielte deshalb gar nicht so eine Rolle.

Warum haben sich erst 1986 die ehemaligen Zwangsarbeiter zu einer Interessengemeinschaft zusammengeschlossen?

Die Interessengemeinschaft ist 1986 entstanden, als die Frage der Entschädigung von Zwangsarbeitern wieder aktuell wurde. Nachdem ein Teil des Flick-Imperiums an die Deutsche Bank verkauft worden war, zahlte Flick nach langem Drängen fünf Millionen Mark an die „Jewish Claims Conference“. Wir finden es richtig, daß die jüdischen Zwangsarbeiter das Geld erhalten, aber wir haben die Forderung: alle Zwangsarbeiter müssen entschädigt werden. Bisher wurde kein einziger nichtjüdischer Zwangsarbeiter entschädigt.

Am 16.Januar 1986 verabschiedete das Europäische Parlament eine Entschließung, die den materiellen und moralischen Anspruch von Zwangsarbeitern als gerechtfertigt ansieht. Sicherlich hat das Europäische Parlament zur Kenntnis genommen, daß es das Londoner Schulden-Abkommen (siehe Kasten, d.Red.) gibt, und daß die Forderungen nicht in Widerspruch zu dem Abkommen stehen. Niemand hat Einspruch erhoben, auch nicht die bundesdeutschen Abgeordneten. Im Januar 86 feierte auch Daimler-Benz sein hundertjähriges Firmenjubiläum mit einer großen, teuren Show.

Wir haben überlegt, daß wir eine Interessenvertretung ehemaliger Zwangsarbeiter brauchen, und haben die im Mai 1986 dann in Frankfurt gegründet. Mit der Gründung haben wir eine Welle in Gang gesetzt. Aus dem In- und Ausland haben wir Zuschriften ehemaliger Zwangsarbeiter erhalten.

Aus welchen Ländern sind ehemalige Zwangsarbeiter mit Ihnen in Kontakt getreten?

Die Masse der Briefe kommt aus Polen und der Sowjetunion. Aber auch aus der CSSR und aus Jugoslawien, aus Dänemark, aus Holland, Frankreich und Belgien erhalten wir Post.

Enthalten die Briefe konkrete Forderungen?

Der Tenor der Briefe von ehemaligen Zwangsarbeitern ist im Grunde genommen ein Hilferuf um wirtschaftliche Unterstützung. Doch unabhängig von einer materiellen Hilfe geht es ihnen auch um moralische Wiedergutmachung. Es geht ihnen darum, daß anerkannt wird, daß ihnen Unrecht angetan wurde.

Was kann die Interessengemeinschaft leisten?

Was wir leisten können ist, daß wir ansprechbar sind für ehemalige Zwangsarbeiter, die in der Bundesrepublik leben, und daß wir die, die im Ausland leben, beraten und ermutigen, ihre Forderungen zu erheben, und daß wir sie dabei unterstützen.

Sieben ehemalige Zwangsarbeiterinnen aus dem KZ Ravensbrück werden gegen Siemens Klage erheben. Die Interessengemeinschaft wird den Prozeß unterstützen.

Die Frauen klagen gegen Lohnverlust und Nachteile in der Sozialversicherung, gegen gesundheitliche Folgeschäden, gegen Freiheitsbeschränkung und gegen die Verletzung der Menschenwürde. Das Problem bei dem Prozeß ist die Finanzierung, denn wenn der Prozeß über mehrere Instanzen geht, wovon ausgegangen werden muß, wird das teuer. Ich rechne nicht damit, daß Siemens so kulant ist, einen außergerichtlichen Vergleich anzubieten. Die Firma fühlt sich stark und glaubt, auf dem hohen Roß zu sitzen. Die „Aktion Sühnezeichen“ wird den Prozeß mit 10.000 Mark unterstützen, aber dieser Betrag wird nicht ausreichen.

Haben schon früher Zwangsarbeiter auf Entschädigung geklagt?

Dr.Edmund Bartel aus Augsburg, der im KZ Sachsenhausen war. Zuerst mußte Bartel herausfinden, wie die damalige Firma überhaupt hieß, für die er als Zwangsarbeiter tätig war, denn die Unternehmen hatten damals weitgehend Tarnnamen. Auch Bosch in Hildesheim nannte sich nicht Bosch, sondern „Trilke-Werke“. Bartel hat dann herausbekommen, daß er für die Firma Heinkel aus Stuttgart-Zuffenhausen arbeiten mußte. Er führte den Prozeß als Musterprozeß für eine Gruppe ehemaliger Zwangsarbeiter aus dem KZ. Die Verhandlung über die Zulassung der Klage ging erfolglos bis zum Bundesgerichtshof. Der erklärte in seinem Urteil am 22.Juni 1967 die Revision in der Sache für unbegründet, weil verjährt. Die Prozeßkosten betrugen 22.000 Mark. Diese hohen Kosten waren in der Folgezeit ein Hinderungsgrund, weiterhin zu klagen.

Zwangsarbeit war organisiert nach dem NS-Rasseprogramm und Teil des Programms „Vernichtung durch Arbeit“. Fritz Sauckel, zuständig für die Organisation der Zwangsarbeit, wurde in Nürnberg wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit zum Tode verurteilt und hingerichtet.

Die Rassenterminologie war auf die Zwangsarbeiter voll übertragen. Zwangsarbeiter aus dem westlichen Ausland gehörten zur „artverwandten“ Bevölkerung, während solche aus Polen und der Sowjetunion zur „artfremden“ gezählt wurden. Es gab Lager für Ostarbeiter, und es gab Lager für Westarbeiter. Die Differenz ging bis zum Tode: der Westarbeiter wurde im Sarg beerdigt, der Ostarbeiter wurde in Ölpapier eingewickelt und kam in eine Grube.

Auch die Löhne waren unterschiedlich...

Die Ostarbeiter erhielten die geringsten Löhne. Zur Sozialversicherung wurden sie nicht angemeldet, so daß ihnen heute bei der Beitragsberechnung ihrer Rente mehrere Jahre fehlen. Mit den Weststaaten hat die Bundesregierung Globalabkommen abgeschlossen über finanzielle Entschädigung. Franzosen, Belgier und Holländer konnten sich an ihre Regierungen wenden. Bei ihnen fehlen deshalb keine Anrechnungszeiten in der Sozialversicherung.

Warum ist Zwangsarbeit nicht als NS-Unrecht nach dem Bundesentschädigungsgesetz (BEG) anerkannt worden?

Diese Frage hat mit der politischen Restauration zu tun. Die Entnazifizierung ist fehlgeschlagen, die Kräfte, die schon am Zuge waren, sind wieder in ihre alten Positionen gelangt. Vom BEG ist entschädigt worden, wer aus politischen, rassischen oder weltanschaulichen Gründen verfolgt worden ist und seinen Wohnsitz vor Beginn der Verfolgung im Deutschen Reich in den Grenzen von 1937 hatte. Die Deportation von einem Land in ein anderes begründet keinen Anspruch im Sinne des BEG. Das Londoner Schulden -Abkommen hindert allerdings niemanden, freiwillig zu zahlen. Krupp, Rheinmetall, IG-Farben und AEG haben unter Druck der Öffentlichkeit für Zwangsarbeiter bezahlt. Aber es wurde immer nur für jüdische Zwangsarbeiter bezahlt.

Der Bundesgerichtshof hat 1973 unter Berufung auf das Londoner Schuldenabkommen Forderungen nach Entschädigung abgelehnt mit der Begründung, die deutsche Wirtschaft müsse vor einer finanziellen Überforderung geschützt werden. Wieviele Zwangsarbeiter sind überhaupt noch am Leben? Kann deren Entschädigung jetzt noch eine Überforderung der deutschen Wirtschaft bedeuten?

Aus Polen waren drei Millionen Zwangsarbeiter im Deutschen Reich. Davon leben nach Auskunft des polnischen Außenministers noch etwa 800.000. Man muß nur die riesigen Exportüberschüsse der deutschen Industrie ansehen, da kann man doch so ein Argument nicht bringen. Damit machen die sich doch lächerlich. Außerdem muß man die Frage stellen, was ist das für eine Moral, wenn man diese Gewinne mit den Zwangsarbeitern erwirtschaftet hat?

Wie reagieren Firmen, wenn sich ehemalige Zwangsarbeiter an sie wenden?

Bei VW zum Beispiel hat die Geschäftsleitung eine Gruppe ehemaliger Zwangsarbeiter empfangen, im Werk Kassel auf dem Gelände, auf dem früher die Henschel-Werke standen. Unter der Hand haben wir erfahren, daß noch eine andere Gruppe ehemaliger Zwangsarbeiter Gäste des Werkes waren. Eine kleine Geste, die nicht weh tut. Das ist wie wenn ehemalige Werksangehörige zum „Seniorentreffen“ eingeladen werden und mit einer Vesper und einem Viertele Wein bewirtet werden. Dahinter steht nicht der Wille, aus einer Schuld heraus zahlen zu wollen. Eine individuelle Entschädigung der ehemaligen Zwangsarbeiter lehnt VW ab. Das Werk hat einen Auftrag an einen Historiker erteilt, die Werksgeschichte aufzuarbeiten, und sie haben die Begegnungsstätte in Auschwitz mitfinanziert.

Warum lehnen die Firmen es ab, ihre ehemaligen Zwangsarbeiter individuell zu entschädigen?

Sie wollen natürlich die Wahrheit verschleiern. Daimler -Benz behauptet, es würde unlösbare Probleme mit sich bringen. Ich frage Daimler: Was hindert Euch, über alle Niederlassungen in der Welt ehemalige Zwangsarbeiter zu bitten, sich zu melden. Das sind keine unlösbaren Probleme. Daimler muß erst sagen, was unternommen wurde, bevor von unlösbaren Problemen geredet wird.

Die Firmen wissen angeblich nicht, wieviele Zwangsarbeiter sie beschäftigt haben. Gleichzeitig verwehren sie - so Daimler-Benz - den Zugang zu ihren Archiven.

Die Firmen blocken ab. Wir fordern, daß die Archive geöffnet werden, daß die Firmengeschichte lückenlos dokumentiert und veröffentlicht wird. Und daß die Opfer geehrt werden. Die Firmen müssen sich um die Massengräber auf den Friedhöfen kümmern. Etwa ein Viertel der ehemaligen Zwangsarbeiter ist noch am Leben. Die Geschichte muß jetzt aufgearbeitet werden, ehe die letzten Zeitzeugen gestorben sind.

Daimler-Benz hat 20 Millionen Mark für Zwangsarbeiter bezahlt. Sind Daimlers Zwangsarbeiter damit entschädigt?

Daimler hat 20 Millionen bezahlt für soziale Institutionen, die für Zwangsarbeiter zuständig sind. Ich habe in Frankreich und Polen recherchiert. Dort sind solche Institutionen nicht bekannt. Das Rote Kreuz hat fünf Millionen Mark zur Verteilung an diese Institutionen in Frankreich, Holland und Belgien erhalten. Doch das Rote Kreuz hat bisher nicht mitgeteilt, wo und wie das Geld verteilt wurde. Wir wissen nicht, welchem Zweck das Geld zufließt. Die fünf Millionen, die Daimler für Polen bestimmt hat, soll die Maximilian-Kolbe-Stiftung verteilen. Aus Polen haben wir Informationen, daß die Stiftung zum Beispiel Medikamente kauft und dann verschickt, so daß diese den ehemaligen Zwangsarbeitern zugute kommen sollen. Zehn Millionen Mark sind an die „Jewish Claims Conference“ gegangen. Wir wissen nicht, ob Daimler selbst kontrolliert, daß das Geld überhaupt bei den ehemaligen Zwangsarbeitern des Betriebes ankommt.

Daimler hat auch ein Denkmal errichten lassen.

Das ist auch so ein Vorzeigeobjekt nach dem Motto „Wir haben uns erinnert“. An dem Denkmal ist überhaupt nichts Spezifisches zu entdecken, was an Zwangsarbeit erinnert. Es heißt ja auch „Tag und Nacht“.

Wie haben sich die bundeseigenen Betriebe bisher verhalten?

1987 hat der Gesamtbetriebsrat der Salzgitter AG, die ja früher die Hermann-Göring-Werke waren, die Bundesregierung als Eigentümerin aufgefordert, eine gesetzliche Entschädigung aller Opfer aus der damaligen Zeit zu veranlassen. Doch die Bundesregierung hat nichts unternommen. Jetzt soll die Salzgitter AG an Preussag verkauft werden für zwei Milliarden Mark. Aus einem Teil des Verkaufspreises müßte ein Fonds gebildet werden, aus dem die Zwangsarbeiter der ehemaligen Hermann-Göring-Werke entschädigt werden. Und es müßte ein Dokumentationszentrum eingerichtet werden.

Im Juni letzten Jahres hat eine öffentliche Anhörung des Innenausschusses des Deutschen Bundestages stattgefunden. Sie haben dort als Sachverständiger ausgesagt. Der Bundestag hat anschließend den Antrag der Grünen auf Entschädigung von Zwangsarbeitern abgelehnt. Jetzt versuchen die Grünen die Einrichtung einer Bundesstiftung durchzusetzen. Was halten Sie davon?

Diese Stiftung finde ich notwendig, denn wenn wir noch zehn Jahre warten, hat sich die materielle Seite biologisch erledigt. Je weniger Zeitzeugen noch leben und je mehr Zeit vergeht, desto weniger Hoffnung habe ich, daß noch was passiert. Es würde der Vorwurf bleiben, daß man bei allem wirtschaftlichen Wachstum eine schwere politische und moralische Schuld von sich gewiesen hat. Aus diesem Grund ist es zu begrüßen, daß die Grünen und die SPD im Bundestag Initiativen ergriffen haben, diese Schuld zu begleichen.

Interview: Dorothee Pfundstein