Sie ist mächtiger, als wir glauben

BILDUNG Annette Schavan hat die CDU so weit gebracht, dass sie die Hauptschule abschafft. Wie ist ihr das gelungen?

■ Der Parteitag: In Leipzig stimmen 1.001 CDU-Delegierte am Dienstag über ein neues bildungspolitisches Programm ab. Wichtigste Forderung: Ein zweigliedriges Schulsystem in allen Ländern mit Gymnasium und „Oberschule“. Damit verabschiedet sich die CDU de facto von der Hauptschule. Das ist auch eine persönliche Kehrtwende von Bildungsministerin Annette Schavan, die beim CDU-Parteitag 2000 in Stuttgart noch ganz andere bildungspolitische Leitsätze prägte.

VON ANNA LEHMANN

Das Schweigen ist ungemütlich. Es hängt schal in der Luft wie der Geruch nach Schülerschweiß in der Turnhalle, die an diesem Oktobersamstag ein Tagungsort ist. Eine Frau hat das Podium erklommen. Mit frischem Lächeln, im rotem Blazer. Baden-Württembergs CDU diskutiert an diesem Tag die Schulpolitik. Es ist Annette Schavans Landesverband, ihr Thema, aber eindeutig nicht ihr Parkett.

Schavan spricht gegen eine Mauer des Misstrauens. Sie muss den Baden-Württembergern erklären, warum sie ihnen als Bundesbildungsministerin nun das wegnehmen will, was sie als Landeskultusministerin einst hätschelte: die Hauptschule.

Schavan nestelt an ihrer Brille, sie zitiert einen spätmittelalterlichen Theologen, sie doziert. Der Saal schweigt zurück.

Schulsterben? Schweigen

Dann kommt die Ministerin zu den Zahlen. 300.000 Schüler wird es 2030 in Baden-Württemberg weniger geben laut Statistischem Landesamt. Die Delegierten im Saal verstehen, was das bedeutet: Schulsterben. Betretenes Schweigen.

Nun kann Schavan die neue Oberschule, die die CDU als Symbiose aus Haupt- und Realschule plant, preisen. Und mit ihrer guten Nachricht besänftigen: Die Hauptschule wird zwar abgeschafft, aber ein Hauptschulzweig erhalten. Aufatmen. Applaus.

Die Schlacht ist geschlagen. Dass die CDU am Dienstag auf ihrem Bundesparteitag in Leipzig das Ende für die Hauptschule beschließen wird, ist nur noch eine Formsache. Zehn Jahre nach dem Pisa-Burn-out ist die Partei bildungspolitisch im 21. Jahrhundert angekommen. Und das ist ein entscheidendes Verdienst der Bundesbildungsministerin Annette Schavan.

Der Abschied von der Hauptschule war ein weiter Weg, für die CDU – und für Schavan. Die Grabenkämpfe um die Hauptschule hat sie schon ganz am Anfang ihrer Karriere erlebt.

Neuss ist eine kleine Großstadt am südlichen Rand des Ruhrgebiets. Das Schützenfest ist der Höhepunkt des Jahres, die Mehrheit der Menschen ist katholisch, die CDU stellt seit Dekaden den Oberbürgermeister.

Im Düsseldorfer Landtag regierte Anfang der siebziger Jahre eine sozialliberale Koalition. Und im Neusser Rathaus streiten sich SPD und CDU, ob Protestanten mit Katholiken und Haupt- mit Realschülern unterrichtet werden dürfen. Im Schulausschuss sitzt auch Annette Schavan. „Ein hochintelligentes Mädchen, die Annette“, sagt Heinz-Günther Hüsch. Er hat Schavan gleich nach ihrem Abitur 1974 als sachkundige Bürgerin in den Schulausschuss geholt, ohne Stimmrecht erst mal.

Der alte CDU-Vorsitzende der Ruhrgebietsstadt hat fünf Kinder und ist in Neuss „ein bisschen Vater für alle“. So sieht er das. Seine älteste Tochter und Annette Schavan kennen sich aus der Schülerunion.

Schavan, geboren 1955, wächst im Schatten des mittelalterlichen Quirinus-Münsters auf. Der Katholizismus ist eine feste Größe im Leben: Sonntags geht die Familien zur Messe, Schavans Lieblingsfach ist Religion. Mitschüler beschreiben sie als eine, die gut mit den Lehrern kann, vor allem mit konservativen.

Die sozialliberale Koalition will damals die bekenntnisorientierten Gymnasien abschaffen und die Haupt- mit den Realschulen zu kooperativen Gesamtschulen zusammenlegen. In diesen Koop-Schulen sollen Schüler ab Klasse sieben wieder getrennt nach Haupt- und Realschulgang unterrichtet werden.

Heute heißt die Koop-Schule Oberschule und ist neues Aushängeschild der CDU.

Damals ist die Partei strikt dagegen. Sie initiiert das Volksbegehren „Stop Koop“. Mitten unter den Verteidigern der Hauptschule: Annette Schavan, seit 1975 CDU-Mitglied. „Sie hat all unsere Kämpfe immer mit großem Nachdruck mitgeführt“, sagt Heinz-Günther Hüsch.

Während Hüsch für den damaligen SPD-Fraktionsführer Hermann Bolten ein „konservativer Scharfmacher“ war, hat Bolten die Stadträtin Schavan als sachlich und ruhig in Erinnerung. „Sie fiel nie durch Lautstärke oder Schärfe auf.“

In der CDU sagt man: Wenn Ursula von der Leyen 500 Millionen Euro bekommt, weiß das morgen die ganze Nation, wenn Schavan 12 Milliarden erhält, erfährt davon erst mal niemand.

Für die Medien ist sie daher eine graue Maus, den Kollegen gilt sie wegen ihrer intellektuellen Schärfe als graue Füchsin. „Kaum jemand bekommt mit, dass sie unheimlich humorvoll ist“, sagt eine ehemalige Banknachbarin vom Gymnasium. Schavan agiert unauffällig, aber effizient. Und sie ist eine der wichtigsten Stützen der Kanzlerin.

„Das ist mehr als ein Zweckbündnis“, sagt Helmut Rau, der ehemalige baden-württembergische Schulminister, der zu Schavans engsten Vertrauten zählt.

„Je stärker der Sturm tobt, desto ruhiger wird sie. So bin ich auch.“ Das sagt Annette Schavan – über Angela Merkel. Die ökumenische Gemeinde Plötzensee im Westen Berlins ist an diesem nebeligen Herbstabend eine sturmgeschützte Insel. Draußen wogt der Kampf um den Euro, im Innern des Betondoms hat Schavan gerade über ihr Buch „Gott ist größer, als wir glauben“ gesprochen. Danach lässt sie sich an einem der runden Kaffeetischchen im Gemeinderaum nieder, eine Frau, die aussieht wie ihr Publikum: Mitte fünfzig, dunkle Hosen, feste Schuhe.

Sie erzählt, wie 1998 bei ihr das Telefon klingelte. Damals war Schavan bereits stellvertretende CDU-Vorsitzende. Am Apparat war ein Redakteur der Stuttgarter Zeitung: Frau Schavan, sie werden Generalsekretärin.

„Werd ich nicht“, antwortete Schavan. Wer denn sonst, fragte der Mann. „Na, dann suchen Sie doch im Archiv mal alles über eine gewisse Angela Merkel“, riet sie dem Redakteur. Ihre Augen funkeln vergnügt, als sie das erzählt, wie bei einem Mädchen, das anderen ein Geheimnis anvertraut. Hat sie Angela Merkel den Vortritt gelassen? Schavan lehnt sich zurück, reißt die Augen mit gespieltem Erstaunen auf und ruft „Ach!“ Als hätte man sie gefragt, ob sie Katholikin ist.

Schavan sagt, sie haben den Posten einfach nicht gewollt. Vielleicht hat sie auch strategisch entschieden. „Sie ist machtpolitisch nicht naiv“, sagt ihr Vertrauter Rau „Im Gegenteil.“

In den vergangenen sechs Monaten hat Schavan mehr über Hauptschulen gesprochen als in den sechs Jahren zuvor. Dabei ist sie eigentlich gar nicht zuständig

Seit 1995 war Annette Schavan Kultusministerin in Baden-Württemberg. Sie machte Politik für die Gymnasien. Die Hauptschulen erodierten.

Als Merkel 2005 Kanzlerin wird, macht sie Schavan zur Bildungsministerin und Beraterin. Weitere Neusser werden von Merkel ins Kanzleramt berufen. Christoph Heusgen, im gleichen Jahr wie Schavan geboren, wird 2005 außenpolitischer Berater. Hermann Gröhe kommt 2008 als Staatsminister in die Kanzlerburg am Spreebogen, ein Jahr später wird er CDU-Generalsekretär.

Ihre wichtigste Gemeinsamkeit: Loyalität.

Ihre größte Niederlage

Nur einmal hatte Schavan genug vom Dienen und wollte herrschen. Die abtrünnigen Teufel-Anhänger brachten sie 2004 gegen Günther Oettinger in Stellung. Sie kassierte ihre wohl größte politische Niederlage. Schavan steckte das weg. Jetzt ist sie in der zweiten Legislaturperiode Bildungsministerin, ihr Haus ist das einzige, dessen Etat wächst. Die ehemalige Leiterin der bischöflichen Begabtenförderung Cusanuswerk teilt aus an die Tüchtigen, steckt Milliarden in die Forschungsförderung, legt ein Stipendienprogramm für besonders Begabte auf, das auch den Begabtenförderwerken zugute kommt.

Für die Hauptschulen ist sie als Bundesministerin nicht zuständig. Und doch hat sie in den vergangenen sechs Monaten mehr über Hauptschulen gesprochen als in den sechs Jahren zuvor. Die linke Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft wurde von ihr in Baden-Württemberg stets freundlich zurechtgewiesen, über das Thema Hauptschule brauche man nicht zu reden. Da sei man eben geteilter Meinung. Heute sucht sie den Dialog.

Nicht weil sie nun eine liberale Bildungsreformerin wäre, sondern weil sie klug genug ist zu wissen, dass Politik mit dem Betrachten der Wirklichkeit beginnt, wie ihr Ziehvater Erwin Teufel sagte. Und weil sie weiß, dass sich die CDU offiziell vom Fetisch Hauptschule verabschieden muss, wenn sie noch gewählt werden will. Sie ist durchs Land gereist von Bildungskonferenz zu Bildungskonferenz und hat zur Basis geredet. Wenn es notwendig ist, kann sie kämpfen.

Und sie kann pragmatisch sein, über konservative Schmerzgrenzen hinaus.

Wie die Kanzlerin.