Montagsinterview Ballhaus-Gardrobier Günter Schmidtke: "Es geht nicht um Pimperei, sondern um Liebe"

Günter Schmidtke steht seit über 40 Jahren an der Garderobe von Clärchens Ballhaus in Berlin-Mitte. Tanzen könnte er auch, aber er will es gar nicht. Viel lieber beehrt der 74-Jährige jeden Gast mit einem Spruch. Und wer ihm quer kommt, kriegt was auf die Fresse.

"Manche Leute sind richtig lustig, wenn sie einen Schwips haben. Aber die, die dreie, viere zu viel drin haben, diese Vollidioten kann ich nicht ab": Günter Schmidtke ist der Chef der Garderobe von Clärchens Ballhaus Bild: Amelie Losier

taz: Herr Schmidtke, ich möchte mit Ihnen über Clärchens Ballhaus reden, in dem Sie seit über 40 Jahren arbeiten, die meiste Zeit davon an der Garderobe.

Günter Schmidtke: Also, Mädchen, du kannst ruhig du sagen. Ja, mein Engelchen, wir können gerne über das Ballhaus reden, das wäre doch gelacht. Aber sag mir erst mal, was du trinken willst.

Günter Hermann Adolf Schmidtke ist ein Berliner Urgestein. Seit 1966 arbeitet er im Tanzlokal Clärchens Ballhaus an der Auguststraße in Berlin-Mitte.

Die Jobs: Nachdem er Kellner und Rauswerfer war, hat er den Dienst an der Garderobe übernommen. Mit 74 Jahren steht er jeden Freitag und Samstag von 20 bis 5 Uhr in der Frühe an der Garderobe und ist nebenbei Seelentröster.

Die Familientradition: Seine Mutter hat schon im Ballhaus gearbeitet und auch seine Frau. Jetzt ist eine seiner Töchter dabei, ebenso der Schwiegersohn und ein Enkel.

Die Kravatten: An der Garderobe finden nicht nur die Gästemäntel Platz. Schmidtke hat dort auch seine Kravatten hängen. Zu Hause braucht er die nicht. Da bevorzugt er legere Kleidung.

Gern. Ich nehme ein Bier.

Jut, ick ooch. Pro Abend genehmige ich mir drei Bier, mehr nicht. Das ist jetzt also das erste. So, Engelchen, dann fang mal an.

Wann hast du hier angefangen?

Das war 1966. Meine Mutter war hier an der Garderobe und hat die Kasse gemacht. Als sie aufgehört hat, war sie schon 80. Meine Frau war an der Bar. Als ich noch Kipperfahrer war, habe ich nur sonnabends hier geholfen. 16 Jahre bin ich Schicht gefahren als Kipperfahrer. Erbauer des Alex, Erbauer des Fernsehturms, Erbauer der Schwedter Papierfabrik! Fast jeden Monat war ich Bestarbeiter und zig Mal Aktivist. Bis ich Probleme mit dem Magen und dem Rücken hatte, wegen dem unregelmäßigen Essen und den Schichten. Da ging es mir ganz schön mies, und ich habe aufgehört.

Und dann?

Ich hatte einen ausgebauten Kuhstall, ich habe bis 1955 Kühe gehabt, da hinten in der Kleinen Hamburger Straße, wo meine Mutter gewohnt hat. Den hatte ich zu einer Lackiererei ausgebaut. Aber Mensch, nur schwarz arbeiten wollte ich auch nicht. Hier in Clärchens war ich eingetragen und dort habe ich meine Autos gemacht. Eine Zeit lang war ich Rausschmeißer und Kellner. Aber Kellner war mir nüscht.

Wieso nicht?

Mit Besoffenen habe ich nichts im Sinn. Ich mag Suff nicht. Ich trinke zu Hause nicht, keinen Sekt, keinen Wein. Hier trinke ich nur meine zwei, drei Bier, damit ich ein bisschen locker werde. Manche Leute sind richtig lustig, wenn sie einen Schwips haben. Aber die, die dreie, viere zu viel drin haben, diese Vollidioten kann ich nicht ab. Ich sehe schon, wie einer reinkommt, ob das ein Stänkerer ist oder ein Lustiger.

Was machst du mit den Stänkerern?

In die Fresse hauen, ja. Das letzte Mal wollte einer, der war 28, hier über die Garderobe rüber. Der hat mich angefasst und wollte mich in die Fresse hauen. Zack, hat er eine gehabt. Ob du es gloobst oder nicht, ich bin ziemlich kräftig.

Wie schaffst du es mit 74 Jahren, jeden Freitag und Samstag von 19 bis 5 Uhr morgens die Garderobe zu schmeißen?

Weil ich nicht erwachsen werde! Ich bin jetzt 74. Aber ich komme mit der Jugend besser klar als mit die Alten. Die erzählen immer nur von ihren Krankheiten. Mensch, was könnte ich da erzählen! Die Kniegelenke kaputt, drei Bypässe, die Sehnen kaputt, Rippen, das Brustbein. Zu DDR-Zeiten gab es Keilereien, hör uff, ganz gemein. Andere sitzen mit dem Krückstock auf der Parkbank. Da werde ich verrückt, das kann ich nicht. Ich bin immer in Bewegung. Ich pflege meine Frau zu Hause, die hat Krebs. Und mein kleiner Hund, ein Pekinese, der ist schon 17 Jahre, ist auch krank. Früher hatte ich ihn immer mit an der Garderobe. Der kann jetzt aber nicht mehr richtig laufen. Ich habe immer zwei Paar Teewurststullen mit. Ich esse keine andere Wurst, und Käse. Teewurst und Käse. Und ich schmeiße keine Stulle weg! Das kann ich nicht ab. Das kommt aus der Kriegs- und Nachkriegszeit.

Was bedeutet dir die Arbeit im Ballhaus?

Erstens bin ich es gewohnt. Zweitens macht es mir Spaß. Drittens kriege ich das bezahlt. Und zum Vierten bin ich gerne unter Leuten. Aber nur freitags und sonnabends. Und ich höre mir wirklich alles an Musik an. Aber zu Hause, da will ich meine Ruhe haben. Im Radio habe ich immer Klassiksender drin. Von der Fünften und der Neunten von Beethoven kann ich nicht genug kriegen.

Gehst du sofort schlafen nach der Arbeit?

Eine Viertelstunde nach der Arbeit bin ich zu Hause. Ich erkläre mal, was ich dann mache: Ich esse einen Keks, löse ein Kreuzworträtsel, trinke einen Schluck Tee, Kamille, jeden Tag einen Liter, dann gehe ich mit meinem Hundchen runter und dann schlafen. Um zehne stehe ich wieder auf und am Nachmittag schlafe ich anderthalb Stündchen, bevor ich hierher gehe.

Tanzt du manchmal auch?

Nee, nie! Zu DDR-Zeiten war es verboten für die Angestellten, sich überhaupt hinzusetzen. Jetzt sagen die Chefs schon mal: "Jetzt aber los, Günter!" Ich sage dann immer nee, ich hätte was mit den Beenen. Aber das stimmt nicht. Ich kann rennen wie ein Hirsch. Und ich kann alles tanzen, Tango, Walzer, Cha-Cha-Cha und das Moderne ooch. Aber ich mag die alten Schnulzen nicht. Ich habe doch einen Haufen Enkel. Ich war der jüngste Opa überhaupt in der ganzen Gegend! Ich war schon mit 38 Opa. Ilka, meine jüngste Tochter, die ist hier Toilettenfrau, hat mit 17 ein Kind bekommen. Und dann habe ich schon zwei Urenkel. Zwei von meinen vier Kindern, die zwei Jungs, sind leider früh gestorben. In den 50er-Jahren war es noch nicht so mit der Medizin. Meine älteste Tochter arbeitet im Rathaus Neukölln. Das ist eine ganz Ordentliche. Die raucht nicht, trinkt nicht, nicht mal Kaffee, dabei arbeitet die im Büro! Das ist doch nicht normal, wa? Dann arbeitet hier noch mein Enkelchen, der ist jetzt 24 und Ordner, und mein Schwiegersohn Lothar macht die Kasse ab acht Uhr.

Wars früher besser oder heute?

Jetzt gefällt es mir besser! Es ist moderner, lebhafter. Zu DDR-Zeiten wurde fünfmal in der Nacht der Schneewalzer gespielt. Dann haben alte Türken hier sechsmal in der Nacht Mustafa gespielt. Ich habe das gehasst wie die Pest. Ich bin für das Moderne! Außer zu Hause. Da sind Beethoven und Oper meine Welt. Ich quatsche auch nur hier, zu Hause keinen Ton. Ich bin ein ganz, ganz Ruhiger, höre meine Opern, verpflege meine Süße, gehe mit dem Hund runter, mache meine Bude. Alles ohne viel zu quatschen.

Musst du auch arbeiten, um die Rente aufzubessern?

Ich wohne am Alex. Da haben Leute wie der Schauspieler Geschonneck gewohnt, Generäle von der Volksarmee, Direktoren, die morgens mit dem Pkw abgeholt wurden. Da habe ich für zwei Zimmer, Balkon, langer Korridor und Kammer 100 Ostmark bezahlt. Jetzt komme ich für die gleiche Bude fast auf 700 Euro - bei 820 Euro Rente, junge Frau. Also muss ich arbeiten, bis ich den Arsch hochmache.

Hast du dir nie was zurücklegen können?

Für mein ganzes Geld aus DDR-Zeiten habe ich mir 1986 ein Wassergrundstück für 75.000 Mark gekauft von einer, die rübergezogen ist, und habe noch mal 50.000 ringesteckt. Sechs Wochen nach der Wende stand sie wieder da. Dann ging der Prozess 15 Jahre lang, und vor zwei Jahren habe ich ihn verloren. Alles im Arsch. Trotzdem bin ich nicht traurig. Die Wende finde ich gut. Ich habe immer gesagt, es wird eines Tages so kommen. Wir sind doch ein Volk.

Welche sind die allerersten Erinnerungen, die du an das Ballhaus hast?

1945. Das erkläre ich mal ganz genau. Der Hof war vollständig verwildert. Hier drinnen waren ungefähr 30 Pferde von den Russen. Das waren Mongolen und Kasachen und so was. Ich hatte ja noch die ganze Hitlerscheiße mitgemacht, und über die Russen hieß es, die nageln uns mit der Zunge auf dem Tisch fest. Die waren so zu uns (er macht mit Zeigefinger und Daumen einen Kuss). Es gab ja nüscht zu fressen, nüscht zu heizen. Und die haben für uns mitgekocht. Oben haben sie das Parkett rausgerissen und geheizt. In einen Eimer haben sie Pferdefleisch gemacht und uns zu essen gegeben. Seitdem esse ich aber kein Pferdefleisch mehr.

Warst du selbst als Gast in Clärchens Ballhaus, bevor du hier gearbeitet hast?

Nee. Da war meine Frau schon hier. Wenn ich hier getanzt hätte, nee, nee, die war ein bisschen eifersüchtig. Früher hatte ich schwarze Haare, da sah ich besser aus als jetzt. Aber ich war ja nie eitel. Schlips und Kragen ist ja nur für hier. Zu Hause laufe ich leger rum.

Also hast du deine Frau nicht hier kennen gelernt?

Nee, wir haben uns in den "Rheinterrassen" kennen gelernt, einem wunderschönen Tanzlokal hinter der Friedrichstraße, das in den 60er-Jahren abgerissen wurde. Ich habe sie noch immer gerne. Aber die Krankheit, der Krebs, die Bestrahlung, das ist schlimm. Kochen, waschen, saubermachen, das mache ich alles. Ich kann kochen, da kriegste ein Auge! Punkt zwölfe gibts Mittag. Wenn es später wird, kriege ich schlechte Laune. Und jeden Tag Gemüse! Gestern gabs Rosenkohl und Salzkartoffeln. Vorgestern Porree, da ist alles drin an Vitaminen. Und dann habe ich Kohlrüben gekocht, schön mit Kassler drin.

Was suchen die Leute, die in Clärchens Ballhaus kommen?

Die wollen abschalten von der ganzen Kacke und sich amüsieren. Allen geht es ja nicht gut, junge Frau. Zum Beispiel so ein junges Mädel, das früh ein Kind kriegt. Die kann sich doch erschießen, bis das Gör groß ist. Die von der Leyen erzählt doch eine Kacke im Bundestag. Ihre sieben Gören werden ja versorgt. Ich bin hier Seelentröster an der Garderobe. Da muss man Psychologe sein. So wie neulich, eine Stammkundin, die jetzt ein zweites Kind hat. Der hat früher ein Zahn gefehlt. Jetzt hat sie sich alles machen lassen, sieht jut aus, ist aber immer noch alleene mit zwei Gören. Für eine Nacht findste immer einen, aber fürs Leben? Es geht ja nicht um Pimperei, sondern um Liebe. Wenn ich um zwölfe mein letztes Bierchen hole, horche ich, worüber die Menschen so reden.

Und? Worüber reden die denn?

Lassen wir das lieber. Nichts Schönes. Und dann rieche ich manchmal so Zeug, als würde jemand altes Laub rauchen. Oder auf der Toilette sieht man oben auf dem Spüler manchmal auch so Reste von was weiß ich was.

Gab es denn viele Avancen von Frauen?

Na, jede Menge, immer noch.

Du lachst?

Ich finde das lustig. Aber ich habe meine Frau lieb. Die habe ich jetzt schon 53 Jahre, die behalte ich ooch. Ich bin nie fremdgegangen, nicht mal allein in die Kneipe.

Was würde dir ohne Clärchens Ballhaus fehlen?

Ick weeß ja ooch nich. Das habe ich ja noch nicht festgestellt. Aber natürlich würde es mir leid tun für die neuen Betreiber, die das so schau gemacht haben. An mir hängen sie! Ich wäre gerne ausgestopft als Mumie, am Pfeiler festgebunden und einer kippt mir noch ein Bier rein. Ich will so lange hier arbeiten, wie es geht. Ich habe ja 95 Prozent des Lebens hinter mir. Ick freu ma jeden Tag, wenn ich die Augen aufmache und es noch geht.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.