Victor Atoe springt

Der Nigerianer ist der einzige Überlebende des Brandanschlags auf das Lübecker Flüchtlingsheim von 1996, der nicht in Deutschland bleiben darf. Er war zwischenzeitlich abgeschoben worden

Dabei könnte Atoe den Lebensunterhalt selbst verdienen: Eine Café in Timmendorfer Strand hat ihm eine Stelle angeboten

von MART-JAN KNOCHE

Ermessensspielraum. Dieses eine Wort könnte Seelenfrieden bedeuten für Victor Atoe, für seine Frau und ihre beiden Kinder. Denn im Spielraum seines Ermessens könnte der Leiter der Ausländerbehörde im Kreis Ostholstein, Volker Fehring, den Atoes nach der neuen Bleiberechtsregelung eine Aufenthaltserlaubnis geben. Dann bekäme auch der Letzte der Überlebenden des Lübecker Brandanschlags von 1996 eine Lebensperspektive in Deutschland. Aber Fehring legt seine Spielräume anders aus: „Streng“, wie er selbst sagt.

1991 meldet sich der damals 27-jährige Atoe bei den deutschen Behörden und beantragt Asyl – was diese nach vier Jahren ablehnen. Doch für ihn steht da schon fest, dass er nicht freiwillig den Rückweg nach Nigeria antritt. Victor Atoe fährt am Abschiebedatum nicht zum Hamburger Flughafen. Er lebt fortan das Leben eines Illegalen in Deutschland. In einer Flüchtlingsunterkunft in der Hafenstraße in Lübeck finden Atoe und viele andere Menschen in gleicher Situation einen Schlafplatz.

So auch in jener kalten Nacht des 18. Januar 1996, in der das Gebäude in Flammen aufgeht. Der Brandanschlag auf das Asylbewerberheim ist ein Wendepunkt in Victor Atoes Leben. Zehn Menschen sterben, darunter sieben Kinder. Einer seiner Bekannten verbrennt. Er selbst reißt ein Fenster auf und springt aus der ersten Etage. Eine Mutter wirft aus dem Feuer ihr Kind hinunter und sich selbst hinterher. Beide sterben neben dem schwerverletzten Victor Atoe.

Der lebensrettende Sprung zertrümmerte sein rechtes Sprunggelenk. Nach der Operation sagen die Lübecker Chirurgen, dass in einem halben Jahr Metallplatten und Nägel aus seinem Körper entfernt werden müssten – sonst drohe eine Knocheninfektion. Doch die deutschen Behörden schieben ihn schon im Mai 1996 ab. Die Krücken nimmt man ihm vorher noch weg.

Mit einem entzündeten Bein reist er drei Jahre später wieder nach Deutschland ein – wenige Monate, nachdem Bundesregierung und schleswig-holsteinisches Innenministerium allen Opfern des Brandanschlags von Lübeck eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis zugesprochen hatten. Für Victor Atoe gelte das nicht, sagen die Behörden, da er zum Zeitpunkt des Erlasses nicht in der Bundesrepublik war. Nur eine erneute Operation können seine Anwälte noch gerichtlich durchsetzen. Seitdem kämpft Victor Atoe darum, dass der deutsche Staat ihn als Opfer des Brandanschlags anerkennt. Bleiben darf er nur, weil seine Frau nachreist und kurz hintereinander zwei Kinder bekommt.

Mit 600 Euro im Monat muss die vierköpfige Familie leben. Dabei könnte Atoe den Lebensunterhalt selbst verdienen: Eine Café in Timmendorfer Strand hat ihm eine Stelle angeboten, unbefristet. Doch vor vier Wochen stand Amtsleiter Fehring mit zwei Polizeibeamten vor der Tür der Wohnung, in der seine Behörde die nigerianische Familie untergebracht hatte: in einem 700-Seelen-Dorf, viereinhalb Kilometer entfernt von Einkaufsmöglichkeiten und öffentlicher Verkehrsanbindung.

Man wolle Atoe in Haft nehmen, um ihn zur Nigerianischen Botschaft nach Berlin zu bringen, teilte Fehring mit. Diese solle Atoe die Passersatzpapiere geben, die für seine Abschiebung erforderlich seien. Was dann passierte, ist teilweise unklar: Victor Atoe wehrt sich. Die Polizeibeamten schaffen es nicht, ihn festzunehmen. Sie rufen Verstärkung. In Panik sieht Atoe vom Fenster aus die Einsatzfahrzeuge anfahren.

Ein zweites Mal spingt Victor Atoe aus dem Fenster eines Hauses in Deutschland. „Ich hatte Todesangst bei diesem Anblick“, sagt er. Diesmal zersplittert sein linker Knöchel. Er flüchtet zu einem Bekannten, der ihn ins Travemündener Krankenhaus bringt. Dort holen ihn Polizisten heraus und transportieren ihn ohne ärztliches Einverständnis nach Berlin.

Atoes Rechtsanwalt Björn Stehn sagt, der nigerianische Botschafter in Berlin habe sich geweigert, seinen auf einer Krankentrage liegenden Landsmann mit Passpapieren auszustatten. Die Familie kehrte nach Ostholstein zurück.