Opfer oder Täter: "Im Interesse der potenziellen Opfer"

Die Zahlen sind insgesamt rückläufig, doch das Thema Jugendkriminalität sorgt zuverlässig für Schlagzeilen. Der Strafrechtler Bernd-Rüdeger Sonnen will vor allem eines: wirksamen Schutz vor Rückfällen.

Jugendstrafvollzug (hier in Schleswig) ist nicht der Weisheit letzter Schluss, sagt der Strafrechtler Bernd-Rüdeger Sonnen. Bild: ap

taz: Herr Sonnen, was ist die wichtigere Nachricht: Dass es insgesamt weniger Jugendkriminalität gibt - oder dass mehr Gewaltdelikte darunter sind?

hat seit 1978 eine Professur für Strafrecht an der Universität Hamburg inne. Seit 1998 ist er Vorsitzender der Deutschen Vereinigung für Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfen e. V. (DVJJ). Er ist Mitherausgeber eines Jugendgerichtskommentars von 2008. Sonnen ist auch als Anwalt in Jugendstrafprozessen tätig.

Bernd-Rüdeger Sonnen: Für mich ist wichtig, dass man einen realistischen Blick auf Jugendkriminalität hat und dabei berücksichtigt, dass es in den Folgen gar nicht um Härte oder Milde geht, sondern um Wirksamkeit. Und Wirksamkeit bedeutet, dass wir Rückfallkriminalität verhindern wollen und müssen. Auch gerade im Interesse potenzieller Opfer.

Warum sprechen Sie von Rückfallkriminalität?

Weil wir seit 2008 erstmals in der Geschichte des Jugendstrafrechts eine ausdrückliche Zielbestimmung haben. Ziel ist es, erneute Kriminalität von Jugendlichen oder Heranwachsenden zu verhindern und das möglichst über den Weg der Erziehung. Also interessiert mich die Frage, ob Kriminalität insgesamt zurückgeht. Die andere Nachricht, dass wir in Teilbereichen der Gewaltkriminalität einen Anstieg haben, ist für mich nicht unbedingt beunruhigend.

Warum nicht?

Man muss wissen, über welche Daten wir sprechen: Das sind die der polizeilichen Kriminalstatistik. In der Tat sind die Körperverletzungsdelikte in den letzten Jahren angestiegen - aber warum, das ist die spannende Frage. Weil die Anzeigebereitschaft größer geworden ist, man guckt nicht mehr weg, man ist also bereit, auch Unbequemlichkeiten auf sich zu nehmen, etwa als Zeuge oder Zeugin vor Gericht zu erscheinen. Das ist ein Zeichen dafür, dass wir insgesamt sensibler gegenüber diesem Gewaltphänomen geworden sind.

Was weiß man darüber, wie oft Zeuginnen und Zeugen eingeschüchtert werden?

Das Phänomen der Einschüchterung gibt es - da lässt sich nichts wegdiskutieren.

Und es ist gerade bei Gewaltdelikten näher liegend.

Das ist ernst zu nehmen. Eine große Untersuchung unter Schülern zu den Taten, die nicht an die Öffentlichkeit kommen, hat gezeigt, dass im Dunkelfeld die Gewaltkriminalität zurückgeht. Das in der Kombination mit der gestiegenen registrierten Gewaltkriminalität belegt die gewachsene Sensibilität. Aber dennoch - das Phänomen der Einschüchterung bleibt - gerade im Bereich der massiven Gewalt, wo man es bei Jugendlichen auch mit Cliquen zu tun hat.

Folgt man den Berichten zumindest in Teilen der Medien, so stehen Justiz und Polizei diesen Gruppen hilflos gegenüber.

Der Eindruck einer gewissen Oberflächlichkeit ist, was die Politik, aber auch die breite Öffentlichkeit anbelangt, sicher richtig. Wir brauchen in einer Demokratie eine aufgeklärte Öffentlichkeit, dazu brauchen wir verlässliche Zahlen, aber was viel wichtiger ist: wir brauchen einen Blick hinter die Kulissen. Wir müssen ganz klar sagen, wo die Entstehungszusammenhänge von jugendlicher Gewaltkriminalität liegen.

Und wie steht es mit der Hilflosigkeit?

Der Eindruck der Hilflosigkeit ist nicht falsch. Obwohl wir viele empirisch gesicherte Ergebnisse haben. Aber die Aufarbeitung ist immer die Aufarbeitung eines Einzelfalls. Die Rückfallwahrscheinlichkeit nach Jugendstrafvollzug beträgt aktuell 77,8 Prozent. Wenn ich als Verteidiger oder Staatsanwältin in einen Prozess gehe und sage: Eine Jugendstrafe kommt nicht in Betracht, weil damit das Ziel, Rückfallkriminalität zu verhindern, nicht optimal zu erreichen ist, werde ich damit nicht gehört.

Was wäre die Alternative?

Zu sagen: Ich verzichte auf die Jugendstrafe und lasse mir etwas anderes einfallen. Setze sie zum Beispiel zur Bewährung aus. Da habe ich fast zwanzig Prozent mehr Erfolg. Und zwar im Interesse der potenziellen Opfer, das ist ganz wichtig. Nicht weil die Bewährung erst einmal dem Täter zugute käme.

Werden die auf Bewährung Verurteilten seltener rückfällig, weil dafür ohnehin nur die Täter mit guter Prognose in Frage kommen?

In der Tat kann eine Bewährung nur ausgesetzt werden bei einer Jugendstrafe von bis zu zwei Jahren einschließlich. Das Zweite ist die positive Sozialprognose, also die Erwartung, dass sich etwas ändert in der Einstellung und im Verhalten des straffällig gewordenen jungen Menschen. Ähnliche Rückfallunterschiede gibt es auch in anderen Bereichen des Jugendstrafrechts: Der Arrest hat eine Rückfallwahrscheinlichkeit von 60 Prozent, der soziale Trainingskurs von etwas über 40 Prozent.

Erstaunlich viele dieser Kurse und Maßnahmen werden nicht in ihrer Wirksamkeit überprüft.

Wir wollen unbedingt etwas tun, wir wollen reagieren und wir müssen reagieren. Wenn ich aber sinnvoll reagieren möchte, brauchte ich eine Einstiegs- und Begleitforschung sowie eine Evaluation. Das ist mit Kosten verbunden.

Die Maßnahme aber auch.

Die Programme haben folgendes Problem: Es sind häufig Reformprojekte, die eine Anschubfinanzierung haben und sich beweisen müssen, um auf Dauer zu existieren. Wenn sie von Haushaltsjahr zu Haushaltsjahr finanziert werden, stehen sie unter einem enormen Erfolgsdruck. Und so wahrscheinlich ist es nicht, dass eine echte Evaluation, von außen und neutral, immer solch positive Ergebnisse garantiert.

Dass die Träger nicht an solchen Ergebnissen interessiert sind, leuchtet ein. Aber die Öffentlichkeit müsste es sein.

Das kann ich nur unterstreichen. Das ist die aufgeklärte Öffentlichkeit, die ich vorhin meinte. Aber es gibt auch eine gewisse Theoriefeindlichkeit in der Praxis. Auf der anderen Seite steht in den neuen Jugendstrafvollzugsgesetzen ausdrücklich, dass Kosten für Evaluation vorgehalten werden müssen. Und das Bundesverfassungsgericht ist in dem Bereich klasse: Es fordert den Gesetzgeber auf, sich an den Praxiserfahrungen zu orientieren, die dann aber auf wissenschaftlicher Grundlage ausgewertet werden müssen.

Warum klafft eine so große Lücke zwischen Kriminalitätsfurcht und tatsächlichem Risiko, Opfer von Kriminalität zu werden? Sind das die viel gescholtenen Medien?

Ich gehöre da nicht zu denen, die in erster Linie die Medien schelten. Wir müssen uns klar machen, dass Jugendkriminalität zu über 90 Prozent ein ganz normales Phänomen ist. Das hängt zusammen mit dem Erwachsen-Werden, man wird hineingeboren in eine Gesellschaft, die man nicht mitgestaltet hat.

Ein normales Phänomen für Jungen, nicht so sehr für Mädchen.

Ich meine "normal" nicht nur statistisch, sondern auch in dem Sinne, dass es eine Gesellschaft ist, in der ich notgedrungen einen Stand finden muss - auch die Mädchen - und Grenzerfahrungen mache. Da muss es jemanden geben, der die Grenzen aufzeigt und für die Zukunft ihre Einhaltung einfordert. Aber nicht durch Ausgrenzung. Das ist eine Kunst, die uns bei 92 Prozent unserer Jugendlichen gelingt - die werden nicht auffällig.

Glauben Sie, dass sich die Debatte um Jugendkriminalität allmählich versachlicht?

Das ist eine Hoffnung, die ich nicht aufgebe. Bei uns interessieren sich fast alle für Fußball und wenn ich am Stammtisch frage, wie die Mannschaft aufzustellen ist, bekomme ich von jedem eine Antwort. Genauso ist es mit Kriminalität: Jeder glaubt zu wissen, wie man auf Jugendkriminalität reagieren sollte. Jede Gesetzesinitiative beginnt damit, dass sich die Jugendkriminalität auf hohem Niveau bewege und dann weiß man, wie zu reagieren ist: Mit Härte. Das klingt logisch: Je höher die Strafe, desto höher die Abschreckungswirkung. Aber die Wissenschaft zeigt nun einmal: die gibt es in der Form nicht.

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