Wiedererrichtung eines Kalifats

GEHEIMBUND Woher kommt die Muslimbruderschaft und wie ist sie organisiert? Und wie wird der herbe Schlag in ihrem Mutterland ihre Zukunft beeinflussen? Petra Ramsauer sucht Antworten

Nichts, was jemals über die Muslimbruderschaft geschrieben worden ist, stimmt. Das Netzwerk ist nicht zu verstehen“, gab einer der Brüder Petra Raumsauer mit auf den Weg und machte der österreichischen Journalistin klar, dass es kein leichtes Unterfangen war, dessen sie sich angenommen hatte.

Nach zwei Jahrzehnten Berichterstattung aus dem Nahen Osten wollte sie ein Phänomen analysieren und beschreiben, ohne das die Entwicklung in der arabischen Welt kaum zu verstehen ist: Sie wollte die größte Organisation in der sunnitisch-islamischen Welt untersuchen. „Muslimbrüder. Ihre geheime Strategie. Ihr globales Netzwerk“ kam nach jahrelangen Recherchen dabei heraus.

Ramsauer führte Gespräche mit einfachen Mitgliedern der Muslimbrüder, mit Führungskadern, Aussteigern und Beobachtern aller Art. „Wer in diesem Buch nach Vorurteilen oder auch bloß Beurteilungen sucht, wird nicht fündig. Es geht darum, zu beschreiben, was an Fakten zu recherchieren ist“, lautet ihr Anspruch. Das Buch erfüllt ihn.

Ausgehend vom Wahlsieg und der Absetzung des ägyptischen Muslimbruders und ersten frei gewählten Präsidenten, Mohammed Mursi, blickt die Autorin zurück und nach vorn zugleich. Woher kommt die Bruderschaft, wie ist sie organisiert, welche Ziele verfolgt sie und wie wird der herbe Schlag des Putsches der Militärs im Mutterland der Muslimbrüder das Netzwerk in der näheren Zukunft beeinflussen, lauten die Hauptfragen, derer sich das Buch annimmt.

1928 von Hassan al-Banna gegründet, schrieb sich die Muslimbruderschaft „Islam ist die Lösung“ auf die Fahne. Das Ziel war und ist die Wiedererrichtung eines Kalifats, eines Staates, in dem alle Muslime vereint leben.

In 79 Ländern

Die „Gemeinschaft“, wie die Anhänger ihre Organsiation nennen, zählt heute alleine in Ägypten über eine Million Mitglieder. Hinzu kommen Ableger in 79 Ländern. Die bei den ersten freien Wahlen im Ursprungsland des „Arabischen Frühlings“, Tunesien, siegreiche Ennahda gehört ebenso dazu wie die in Marokko oder Libyen regierenden Islamisten. Hamas ist der palästinesische Zweig der Muslimbrüder, und selbst in Europa und den USA unterhält die Bruderschaft Strukturen. Darüber hinaus bestehen Kontakte mit einem breiten Sammelsurium von Gruppen und Parteien, wie der in der Türkei regierenden AKP oder Immigrantenorganisationen wie der radikalen Milli Görüs.

Ramsauer analysiert die Rolle der ägyptischen Mutterorganisation ebenso wie die nationalen Eigenheiten in den Ländern des „Arabischen Frühlings“. Hinzu kommt die wachsende Bedeutung des internationalen Netzwerkes, das die Bewegung seit dem Putsch und der Verfolgung in Ägypten – und damit des Zusammenbruchs der bisherigen Führungsstrukturen – organisiert und weltweit koordiniert.

Trotz der hohen Mitgliederzahl ist die Bruderschaft ein weitgehend abgeschlossener Geheimbund. Anwärter brauchen mehrere Jahre, bis sie alle Stufen vom Sympathisanten bis zum Vollmitglied durchlaufen haben. Die Mitglieder organisieren sich in Zellen, den sogenannten Familien. Neben den politischen Aktivitäten unterhalten sie soziale Dienste, von Schulen bis hin zu Gesundheitsposten und der Versorgung verarmter Bevölkerung. Rund die Hälfte der Mitglieder in Ägypten sind Frauen. Die Muslimschwestern verfügen über eigene Organisationsstrukturen.

Die geheimen Strukturen lassen viel Raum für Spekulationen über den wahren Charakter der Organisation. „Wie ein roter Faden zieht sich der Generalverdacht des heimlichen, terroristischen Naturells durch die gesamte Geschichte der Bruderschaft. (…) Um die tatsächliche Gewaltbereitschaft (…) einzuschätzen, ist es nötig, zahlreiche Puzzleteile zusammenzusetzen“, heißt es im Buch. Der Kult um den bewaffneten Widerstand von Hamas gegen Israel, die brutale Verfolgung, der die Muslimbrüder derzeit in Ägypten ausgesetzt sind, der Einfluss radikal-islamistischer Ideologie auf junge Mitglieder, Ramsauer beschreibt all das, was die Zukunft der größten islamischen Organisation prägen könnte.

„Die Bruderschaft einzuordnen, kommt dem Unterfangen, einen Pudding an die Wand zu nageln, gleich“, warnte eine anonyme Quelle aus dem österreichischen Verfassungsschutz. Ramsauers Buch kann und wollte dies nicht leisten. Doch es gibt dem Leser genug Stoff an die Hand, um das Phänomen Muslimbrüder zu verstehen und künftige Nachrichten aus der arabischen Welt besser einordnen zu können. REINER WANDLER

Petra Ramsauer:“ Muslimbrüder. Ihre geheime Strategie.“ Molden Verlag, Wien 2014, 208 S., 19,99 Euro