Macht der Meinungsumfragen: Die Droge Demoskopie

Der Wille des Wählers ist kaum noch zu messen. Ein Grund: Viele Jüngere haben nur noch ein Handy. Die Forscher erreichen sie einfach nicht.

Wer wird es? Die gesamte politische Klasse ist süchtig nach Umfragen. Bild: dpa

Frank-Walter Steinmeier (SPD) ist Anfang August auf Wahlkampftour. Kameramänner, Schaulustige, Journalisten drängen sich um ihn. Ein Lokalreporter fragt: "Herr Steinmeier, was sagen Sie zu den Umfragen?" Forsa hat gerade mal wieder einen historischen Tiefstwert für die SPD ermittelt. Steinmeier sagt, er blicke nach vorne und nicht auf die Umfragen von letzter Woche. Später sagt er trotzig: "Ich bin kein Umfrage-Junkie."

Das stimmt nicht. Die gesamte politische Klasse ist süchtig nach Umfragen. Sie beeinflussen das politische Geschäft, sie entscheiden über Parteitage und das Ende von Koalitionen. So ließ Schleswig-Holsteins Ministerpräsident Peter Harry Carstensen in Kiel die Koalition mit der SPD auch platzen, weil die Umfragewerte für die CDU blendend waren. Die Bundes-SPD legte ihren Parteitag auf einen Termin eine Woche nach der Europawahl im Juni. Laut Meinungsumfragen konnte die SPD mit Gewinnen rechnen, die der Parteitag feiern sollte. Doch die SPD stürzte auf 20,8 Prozent ab. Parteichef Franz Müntefering beklagte sich danach über Umfrageinstitute, die "uns doch 26, 27 Prozent versprochen hatten".

Je diffuser wird, was Bürger wollen, je dichter das Dickicht von Lobbyverbänden ist, die auf Politiker einwirken, desto mehr klammern sich Parteimanager an die Zahlen. Denn die sind übersichtlich und eindeutig.

So ergibt sich eine scheinbar paradoxe Lage. Ohne Umfragen läuft im Politikbetrieb nichts - doch die Umfragen sagen immer weniger über das Wahlergebnis aus. Einen Absturz erlebten die Demoskopen vor vier Jahren, am 18. September 2005. Alle Institute hatten für die Union etwa 42 Prozent berechnet - sie bekam 35,2. Das ist kein Einzelfall. Bei den Landtagswahlen in Bayern 2008 ermittelten Forsa und Emnid für die CSU zehn Tage vor der Wahl mindestens 49 Prozent, die CSU bekam sechs Prozent weniger. Welche Konsequenzen haben die Institute daraus gezogen?

Klaus-Peter Schöppner, der Chef des Emnid-Instituts, meint: "Wir haben 2005 keinen Fehler gemacht." Auch bei Emnid lag die Union bei der letzten Bundestagswahl bei 42 Prozent - aber eine Woche vor der Wahl, wie Schöppner betont. Will sagen: Die Umfrage war korrekt, doch offenbar haben ein paar Millionen in den letzten acht Tagen vor der Wahl ihre Meinung über die Union geändert.

Im Demoskopen-Sound heißt dies, dass die Wähler volatiler werden. Sie wählen nicht immer die gleiche Partei, sie springen häufiger zwischen den Lagern. Und sie haben die für Demoskopen höchst unerfreuliche Neigung, nicht zu wissen, wen sie wählen. So wächst die Zahl der Unentschlossenen stetig. 1998 entschieden sich 20 Prozent erst in der Woche vor der Wahl, 2005 waren zehn Tage vor der Wahl 32 Prozent unsicher, wen sie wählen, diesmal sind es, laut ZDF, 41 Prozent. Fast jeder Zweite. "Die Ad-hoc-Entscheidungen nehmen zu", sagt Schöppner. "Die statistische Unsicherheit wächst." Doch das Selbstbewusstsein der Meinungsforscher leidet darunter keineswegs.

Jörg Schönenborn, der in der ARD die Umfragen präsentiert, ließ am letzten Donnerstag zwar plakativ einen Balken schräg über die Zahlenkolonnen legen: "Keine Prognose". Doch von solchen Selbstdistanz-Demonstrationen abgesehen, tun die Institute so, als wäre nichts passiert. Sie behaupten unverdrossen, dass die Fehlertoleranz ihrer Umfragen zwei bis drei Prozent beträgt. Das ist gemogelt. Diese Zahl suggeriert eine Genauigkeit, die es nicht mehr gibt. Die Fehlerquote von zwei bis drei Prozent gilt nur, wenn alle Befragten wissen, was sie wählen. Doch so ist es nicht mehr. Die Demoskopen nehmen einfach an, dass die Unentschlossen mehr oder weniger genauso wählen wie jene, die wissen, wen sie wählen. Das stimmt manchmal, manchmal nicht. "Im Vergleich zu Bankanalysten", so Emnid-Chef Schöppner, "sind wir doch noch ganz gut."

Manfred Güllner, Chef von Forsa, versteht die Kritik an der Demoskopie nicht. 1965, sagt er, ging die Wahl auch anders aus als von den Demoskopen erwartet. Und damals gab es noch Stammwähler und die Bürger waren keine wankelmütigen Wesen wie heute. "Umfragen sind nicht ungenauer als früher", sagt Güllner. Das ist ein kühner Satz, wenn man sich die Forsa-Zahlen 2005 anschaut. Damals befragte Forsa bis zwei Tage vor der Wahl und ermittelte für die Union 41 bis 43 Prozent. Die Union bekam nur 35 Prozent. Dieser kollektive Sinneswandel hat sich in kaum 48 Stunden vollzogen. Die Forsa-Zahlen waren schlicht falsch.

Forsa veröffentlicht seitdem ungerührt weiter Umfragen. Derzeit wollen, laut Forsa, 26 Prozent die SPD und 36 die Union wählen. Ehrlich wäre, mit Rückblick auf 2005, die Angabe: mit 7 Prozent Fehlertoleranz. Genau genommen wollen derzeit laut Forsa also zwischen 19 und 33 Prozent die SPD und zwischen 29 und 43 die Union wählen.

Die Umfragen sind unpräziser, weil die Wähler wankelmütiger geworden sind. Zudem ist es auch schwieriger geworden, den Wähler, das unbekannte Wesen, repräsentativ zu erfassen. Denn die zufällige Telefonbefragungen, auf die fast alle Institute setzen, klappen nicht mehr so wie früher. Viele Angerufene legen entnervt auf, weil sie glauben, dass ihnen jemand etwas verkaufen will. "Die Call-Center", so Güllner, "sind ein echtes Problem." Der Politikwissenschaftler Andreas M. Wüst vom Zentrum für Europäische Sozialforschung in Mannheim meint, dass "vor zwanzig Jahren noch jeder zweite Angerufene mitgemacht hat, heute könne die Institute froh sein, wenn jeder dritte antwortet".

Und: Viele Jüngere haben nur noch ein Handy und keinen Festnetzanschluss mehr. Auch das stellt die Institute vor eine kaum lösbar Aufgabe. Forsa und Emnid arbeiten zwar mit Handystichproben. Doch längere Interviews sind mit Handynutzern, die gerade Autofahren oder in der Kneipe sind, unmöglich.

Kurzum: Es ist aufwändiger und schwieriger geworden, per zufälliger Telefonbefragung ein repräsentatives Bild zu entwerfen. Güllner ficht die Kritik nicht an. "Unsere Methoden", sagt er, "sind ausgereift."

Der SPD-Linke Karl Lauterbach macht derzeit in Köln Wahlkampf, um am 27. September dort ein Direktmandat zu erobern. Er läuft von Haustür zu Haustür und ist überzeugt, dass Umfragen systematisch verzerren. "Viele potenzielle SPD-Wähler, mit denen ich rede, haben keinen Festnetzanschluss, sondern ein Prepaid-Handy", sagt er. Für längere Interviews seien sie auch nicht zu erwärmen. Dies führe dazu, dass "die SPD in Umfragen unterbewertet ist". Und das kann im politischen Kampf ein handfester Malus sein. Wenn klar ist, wer siegt, wählen die Bürger lieber den Gewinner. Bandwagon-Effekt nennen das Meinungsforscher.

Vor allem Manfred Güllner ist für die SPD ein rotes Tuch. Güllner ist die umstrittenste Figur im Geschäft. Er ist seit 45 Jahren SPD-Mitglied und galt lange als SPD-nah. Heute redet er über die SPD, als handle es sich um eine Ansammlung von Volltrotteln. Auffällig ist, dass Forsa stets miserable SPD-Werte präsentiert. Als Kurt Beck als SPD-Chef wankte, veröffentlichte Forsa, dass jeder dritte SPD-Genosse vielleicht austreten will. Die von Forsa somit angekündigte Austrittswelle blieb aus - aber Beck war danach noch unsicherer als zuvor. Im März 2008 taxierte Forsa Lafontaines Linkspartei im Saarland auf 29 Prozent, die SPD auf 16. Keine anderes Institut kam je auf annähernd ähnliche Werte. Kürzlich behauptete Güllner, dass die Bundes-SPD an einem Mittwoch vor ein paar Wochen nur noch 16 Prozent hatte. Fragt sich, wann Forsa den historische SPD-Tiefstwert für einen Mittwochnachmittag veröffentlichen wird.

Güllners Ruf in der Branche leidet zwar unter seiner marktschreierischen Attitüde - die Nachfrage nach Forsa-Zahlen ist indes ungebrochen.

Diskurs verkümmert

Umfragen sind nicht nur mächtig, weil sie Wahlen beeinflussen. Sie prägen und formen auch das Bild von Politik. Erhard Eppler, früherer SPD-Vordenker, hält das für eine Gefahr für die demokratische Öffentlichkeit. Politiker, die sich dauernd für Umfragewerte rechtfertigen, können nur verlieren. In der Frage nach Umfragen, so Eppler, stecke stets die Unterstellung, "dass es Politikern nicht um Inhalte geht, sondern nur um sich selbst". Das wöchentliche Trommelfeuer der Umfragen, so Eppler, "verdeckt die Auseinandersetzung um die Sache". Der politische Diskurs verkümmert zur Ausdeutung von Zahlen, die vielleicht stimmen, vielleicht auch nicht.

Ein Beispiel, welche Blüten die Fixierung auf Umfragen treibt, war Ende August im Spiegel zu lesen. "Wahlergebnisse frieren die Stimmung eines Moments für vier Jahre ein. Im Herbst 2005 lagen Union und SPD für einen kurzen Moment fast gleichauf. Es entstand ein Gleichgewicht der Kräfte. Schwierig wurde es, als dieses Gleichgewicht bald schon virtuell wurde. In den Umfragen lag die SPD dann weit zurück, sie war ein Scheinriese."

Die Wahl, Essenz der demokratischen Legitimation, erscheint als zufällige, flüchtige Stimmung - die Umfrage als wahrer Ausdruck des Volkswillens. Die Simulation ("Wen würden Sie wählen, wenn am Sonntag Wahl wäre?") ersetzt das Ereignis. Wenn die launischen Wähler weiterhin die soliden Umfragetrends über den Haufen werfen - wäre es da nicht besser, auf die Wahl zu verzichten?

Mitarbeit: Paul Wrusch

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