„Aufstieg durch Bildung ist ein großes Märchen“

PÄDAGOGIK Allein die Schulen können den sozialen Status nicht ausreichend verbessern, sagt Bildungsforscher Marcel Helbig. Zum Ausgleich fordert er eine verpflichtende frühkindliche Betreuung

29, ist Soziologe. Am Wissenschaftszentrum Berlin (WZB) erforscht er den Wandel geschlechtstypischen Bildungserfolgs und den Einfluss des deutschen Bildungsföderalismus auf soziale Ungleichheiten.

INTERVIEW: EBRU TAȘDEMIR

taz: Herr Helbig, warum schneidet Berlin beim bundesweiten Bildungsvergleichstest wieder so schlecht ab?

Marcel Helbig: Weil Berlin viele Schüler mit Migrationshintergrund und viele aus Familien mit arbeitslosen Eltern oder Sozialhilfebezug hat. Das gilt auch für die beiden anderen Stadtstaaten Hamburg und Bremen, und die liegen mit Berlin auf den letzten Plätzen.

Warum ist es in unserem Bildungssystem ein Problem, einen Migrationshintergrund zu haben?

Migration ist in Deutschland meist an einen niedrigen sozioökonomischen Status gekoppelt. Es ist unklar, ob die Migration an sich schon zu einer Benachteiligung führt oder es über den sozialen Status vermittelt ist, dass Migranten häufiger unter Arbeitslosen und Sozialhilfeempfängern zu finden sind und deshalb so schlecht abschneiden.

Und warum ist der niedrige sozioökonomische Status ein Problem?

Weil er meist mit geringer Bildung einhergeht. In den Familien können den Kindern wenig Wissen und Kompetenzen vermittelt werden. Das wird zu einem Problem vor allem beim Übergang auf die weiterführenden Schulen, wo die höheren Schichten mit allen Mitteln versuchen, sich durchzusetzen, da sie wissen, dass sozialer Status über das Bildungssystem vererbt wird. Eltern aus niedrigen sozialen Schichten sind sich dessen oft weniger bewusst und können das schlechter abschätzen.

Aber Berlin ist auch ein Bundesland mit hoher sozialer Durchlässigkeit im Bildungssystem. Das ist doch ein Widerspruch.

Berlin ist eines der Länder, die besonders viele Kinder aufs Gymnasium lassen – zehn Prozent mehr etwa als in Bayern. So hat man eine etwas stärkere soziale Mischung auf dem Gymnasium. In Bayern, wo nur wenige aufs Gymnasium kommen, werden sich immer die Statushohen durchsetzen. Es kommen kaum Kinder aus der Unterschicht oder der unteren Mittelschicht aufs Gymnasium. Wenn wir davon ausgehen, dass Berliner und bayerische Schüler gleich intelligent sind, in Bayern aber nur die besten 30 Prozent, in Berlin 40 bis 45 Prozent aufs Gymnasium kommen, dann wirkt sich das auf den Mittelwert aus. Das hat nichts mit der Leistung der bayerischen Gymnasien zu tun, sondern liegt an der stärkeren Selektion.

Ist also „Aufstieg durch Bildung“ für Migranten ein Märchen?

Ein ganz großes Märchen, und zwar nicht nur für Migranten, sondern für alle Kinder, die nicht aus der Mittel- oder Oberschicht kommen. Und das hat sich in den letzten Jahren kaum geändert.

Warum können die Schulen das nicht ausgleichen?

Die Lehrer haben zu wenig Zeit mit den Kindern, um von zu Hause mitgebrachte Unterschiede auszugleichen: Wir brauchten mehr Ganztagsschulen mit längeren Betreuungszeiten.

Bildungsbürgertum produziert wieder Bildungsbürgertum.

„Wir fördern diejenigen, denen es vom Elternhaus aus schon gegeben ist“

Genau. Wenn man nicht sehr früh damit anfängt, sich um diese sozialen Unterschiede zu kümmern, dann geht die Schere sogar noch ein Stück weiter auf.

Was kann man dagegen tun?

Berlin ist, was frühkindliche Betreuung angeht, schon sehr gut aufgestellt. Es verwundert, dass das nicht zu besseren Ergebnissen führt. Allerdings gibt es nach wie vor keine verpflichtende frühkindliche Betreuung. Und wir wissen, dass Migranten und Familien aus der Unterschicht seltener Kinderbetreuung und frühkindliche Förderung in Anspruch nehmen. So fördern wir in unserem Kinderbetreuungssystem diejenigen, denen es vom Elternhaus aus schon gegeben ist, und die anderen sind trotzdem nicht drin. Wenn wir Kinderbetreuung nicht verpflichtend machen, und da rede ich nicht von einem Jahr vor Schulbeginn, sondern meinetwegen ab dem dritten Lebensjahr, dann werden wird das niemals ausgleichen können.

Glauben Sie, dass die gegenwärtige Bildungspolitik, also die Schulreform, die richtigen Akzente dagegen setzen wird?

Die Berliner wie die Hamburger Schulreform zielen darauf ab, soziale Ungleichheit zu nivellieren. Wenn man diese Ungleichheit etwas in den Griff kriegen will, sind diese Reformen ein Schritt in die richtige Richtung.