Der Schlüssel zum RAF-Code

DECKNAMEN Im Herbst 1976 fanden Ermittler Pläne der Roten Armee Fraktion. Die Beamten hätten viel verhindern können – hätten sie die Dokumente verstanden

Der Autor, 55, war einer der Mitbegründer der taz und später auch ihr Chefredakteur. Der Historiker arbeitete anschließend als Redakteur bei der Zeit und beim Spiegel, für den er heute als Autor schreibt. „Natürlich kann geschossen werden“ ist Sontheimers zehntes Buch.

VON MICHAEL SONTHEIMER

Für die Rote Armee Fraktion war der 30. November 1976 kein guter Tag. Gegen elf Uhr vormittags waren zwei RAF-Kader in einem gestohlenen grauen Opel Admiral auf der Bundesautobahn 5 von Kassel nach Frankfurt unterwegs: Siegfried Haag, ein vormaliger Rechtsanwalt aus Heidelberg, der den zwei Jahre zuvor in einem Hungerstreik gestorbenen RAF-Mann Holger Meins vertreten hatte; am Steuer saß Roland Mayer, der einige Monate zuvor mit Karlsruher Freunden und Genossen wie Christian Klar und Günter Sonnenberg in den Untergrund gegangen war.

Als Haag und Mayer den Kilometer 444 unweit von Butzbach passierten, stoppten die Besatzungen eines Streifenwagens und einer Zivilstreife sie. Die beiden waren – wie sich das für Mitglieder der RAF gehörte – mit Pistolen bewaffnet. Dennoch ließen sie sich von fünf Polizisten ohne nennenswerten Widerstand festnehmen. Als Andreas Baader, der in Stuttgart Stammheim inhaftierte inoffizielle Chef der RAF, von der friedlichen Festnahme hörte, soll er sie seinen Genossen richtig übel genommen haben.

Siegfried Haag war wenige Monate zuvor in einem palästinensischen Ausbildungslager von der Wiederaufbaugruppe der RAF zu ihrem „Leader“ gewählt worden. Zusammen mit der bei der Entführung des Berliner CDU-Vorsitzenden Peter Lorenz freigepressten Genossin Verena Becker bildete er die Führung der Illegalen. Haags Verhaftung war ein böser Schlag für die RAF. Noch gefährlicher war der Fund, den die Polizisten in dem Opel Admiral machten: drei Taschen mit brisanten Dokumenten, mit Strategiepapieren und Arbeitsplänen der RAF.

Heute ist klar, dass diese Papiere der Bundesanwaltschaft und dem Bundeskriminalamt eine große Chance eröffneten. Wäre es den Terrorfahndern gelungen, die Dokumente zu entschlüsseln, hätten sie die „Offensive 77“ der RAF verhindern können, mit der die Gruppe im „Deutschen Herbst“ 1977 die Bundesrepublik an den Rand den Staatsnotstandes brachte: Das Attentat auf Generalbundesanwalt Siegfried Buback, die versuchte Entführung des Bankiers Jürgen Ponto, bei der dieser erschossen wurde; die Entführung und Ermordung des Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer.

In einem Lager der „Popular Front for the Liberation of Palestine – Special Command“ (PFLP-SC) im Südjemen hatten rund ein Dutzend Mitglieder sich auf mehrere Aktionen verständigt. In den beschlagnahmten Papieren stießen die Ermittler der Bundesanwaltschaft und des Bundeskriminalamtes auf drei Begriffe, die als Codeworte für geplante Aktionen standen: „Margarine“, „Big Money“ und „Big Raushole“. Zunächst kamen sie nicht darauf, dass „Margarine“ der Deckname für ein Attentat auf den Generalbundesanwalt Siegfried Buback war; seine Initialen entsprachen dem Namen der populären Margarinemarke „SB“. Die RAF machte Buback für den Tod von drei inhaftierten Mitkämpfern verantwortlich, unter anderem den von Ulrike Meinhof.

„Big Money“ sollte, so glaubten die Bundesanwälte später, der Deckname für die Entführung des Bankiers Jürgen Ponto sein. In Wirklichkeit stand das Codewort für das Kidnappen eines Industriellen, um mit einem hohen Lösegeld die Kriegskasse zu füllen. Geld für das kostenträchtige Leben im Untergrund wurde aber dann mit Banküberfällen beschafft.

Mit „Big Raushole“, das war leicht zu erraten, war das entscheidende Ziel der RAF in den Jahren 1972 bis 1977 gemeint, die Befreiung von Andreas Baader, Gudrun Ensslin und anderen RAF-Mitgliedern aus dem Gefängnis. Dafür fassten die RAF-Kader zwei sich ergänzende Aktionen ins Auge, die Entführung eines Bankiers und die Entführung Hanns Martin Schleyers. Von drei Bankiers fiel die Wahl schließlich deshalb auf Jürgen Ponto, weil die RAF-Unterstützerin Susanne Albrecht mit seiner Familie befreundet war.

Thimme war nicht „Tim“, Croissant ein „Hörnchen“

Das in den beschlagnahmten Papieren verwendete Kürzel „H. M.“ entzifferte die Bundesanwaltschaft später als Hanns Martin Schleyer. Zahlreiche Journalisten übernahmen die Deutung. Doch sie ist nach Angeben ehemaliger RAF-Mitglieder falsch, da die Entführung des Arbeitgeberpräsidenten im November 1976 noch nicht geplant war.

Die Kader der RAF trugen – wie bei jeder Guerilla-Gruppe – aus Gründen der Sicherheit von Anfang an Decknamen. Die Gründer Andreas Baader und Gudrun Ensslin hießen in der Gruppe zunächst „Hans“ und „Grete“, später „Ahab“ und „Smutje“, nach dem Roman „Moby Dick“ von Herman Melville. Auch die Vertreter der zweiten Generation der RAF gaben sich Decknamen, die alle in den beschlagnahmten Papieren aufgeführt waren.

Doch die Ermittler konnten nur drei der zwölf Decknamen entschlüsseln. Zudem machten sie einen fatalen Fehler: Sie identifizierten Johannes Thimme, einen ehemaligen Schulkameraden und Freund Christian Klars, als „Tim“. Thimme, der zwar die RAF unterstützte, aber ihr nie angehörte, saß dann unter anderem wegen „Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung“ 22 Monate in strikter Einzelhaft. Später war er wegen des Verteilens eines Flugblatts, das zur „Solidarität mit der RAF“ aufrief und als Werbung für eine terroristische Vereinigung gewertet wurde, zu anderthalb Jahren Haft verurteilt worden. Im Januar 1985 kam er in Stuttgart bei dem Versuch, eine selbst gebaute Bombe zu legen, zu Tode.

In Wahrheit stand „Tim“ nicht für Thimme, sondern für Peter-Jürgen Boock, wie mehrere ehemalige RAF-Mitglieder sagen. Mit ihren Angaben kann man auch die übrigen Decknamen der RAF aus dem Herbst 1976 entschlüsseln. Damit lässt sich 34 Jahre später das Geheimnis lüften:

Anton: Rolf Klemens Wagner

Bodo: Günter Sonnenberg

Ede: Christian Klar

Egon: Siegfried Haag

Hans: Stefan Wisniewski

Inge: Waltraud Boock

Käthe: Friederike Krabbe

Karl: Rolf Heißler

Michael: Roland Mayer

Olga: Sieglinde Hofmann

Paula: Verena Becker

Tim: Peter-Jürgen Boock

Hätten die Ermittler die Namen Ende 1976 dechiffriert, dann hätten sie wichtige Erkenntnisse über die Arbeitsteilung der RAF-Illegalen gewinnen können, zum Beispiel; dass für „Pappen basteln“, das heißt Dokumente fälschen, Boock zuständig war; und dass „Paula“ alias Verena Becker zusammen mit „Olga“, das heißt Sieglinde Hofmann, die „Depot Zentrale“ aufsuchte – oder aber auch, dass Rolf Klemens Wagner dafür kritisiert wurde, dass er mit einer „legalen“ Frau geschlafen hatte, die nicht zur RAF gehörte: „Kritik Anton (vögeln mit leg. Braut).“

Die Fahnder kamen auch nicht dahinter, dass mit „P’s“ die verbündeten Palästinenser abgekürzt waren oder der Stuttgarter RAF-Anwalt und Sympathisant Klaus Croissant schlicht „Hörnchen“ genannt wurde. „Die waren mit ihren Bürokratenhirnen einfach zu blöd“, sagt ein Ex-RAF-Mann, „sich in unsere Assoziationen hineinzudenken.“

Da die Ermittler nur einen sehr kleinen Teil der Papiere entschlüsseln konnten, gelang es ihnen mit der Verhaftung von Haag und Mayer lediglich, die Anschläge der RAF zu verzögern. Ursprünglich hatten die Illegalen das Attentat an Siegfried Buback für Ende 1976 geplant; das „Kommando Ulrike Meinhof“ ermordete den Generalbundesanwalt und seine beiden Begleiter dann am 7. April 1977.

Der BKA-Präsident überschätzt sein Wissen

Horst Herold, der Präsident des Bundeskriminalamtes (BKA), erklärte später dennoch: „Ende 1976 war das Ziel der informatorischen Überlegenheit über die RAF erreicht. Ende 1976 wussten wir mehr als diese über sich selbst.“ Diese Erinnerung war eine peinliche Selbstüberschätzung. Herold und seine BKA-Beamten wussten nicht, was die RAF plante. Sie wussten auch nicht, dass die zentrale Figur der „Offensive 77“ erst noch zu den Illegalen stoßen würde.

Ende 1976 war vor allem Gudrun Ensslin im Hochsicherheitstrakt des Gefängnisses Stuttgart-Stammheim damit beschäftigt, eine Mitgefangene zu instruieren, die ihre Nachfolge antreten sollte. Es war Brigitte Mohnhaupt. Sie bekam den Auftrag, nach ihrer bevorstehenden Haftentlassung die Illegalen auf Vordermann zu bringen und die Offensive zu starten, mit der die Bundesregierung in die Knie gezwungen werden sollte.

Mohnhaupt, die seit ihrer Entlassung aus dem Gefängnis im März 2007 wieder unter einem falschen Namen lebt, hieß damals im Untergrund übrigens „Nora“.

Dieser Text ist eine erweiterte Passage aus dem Buch: „‚Natürlich kann geschossen werden.‘ Eine kurze Geschichte der Roten Armee Fraktion“. Es erscheint nächste Woche als Spiegel-Buch bei der Deutschen Verlagsanstalt (DVA), hat 224 Seiten und kostet 19,95 Euro