Freiwilligenbataillone in der Ukraine: Kämpfen oder überleben

Der Kriegswinter war hart. Dem Staat geht das Geld aus, die Armee hat Probleme. Wie die ukrainische Gesellschaft versucht, sich zu organisieren.

Liegestütze in der Natur: Kämpfer des Freiwilligenbataillons „Marusias Bären“ bilden Kiewer Zivilisten für den Straßenkampf aus. Bild: Cedric Rehman

KIEW taz | Marina Lechnovas* Stiefel sind eindeutig zu groß. Die 16-Jährige stakst wie ein Storch durch den Schlamm. Das Mädchen trägt eine Tarnuniform. Sie bekommt rote Bäckchen. Vielleicht weil es kalt ist, vielleicht weil sie schüchtern ist. Später am Tag wird Marina Lechnova auf dem Matsch Liegestütze machen. Sie wird mehr hinbekommen als die 30- bis 50-jährigen Hausfrauen, Bankkaufmänner oder Verkäufer aus Kiew mit ihren Raucherlungen und Wohlstandsbäuchen.

Marina Lechnova wird ein Maschinengewehr halten, das halb so groß ist wie sie selbst. Sie wird es abfeuern und den Rückstoß spüren, ohne dabei das Gleichgewicht zu verlieren. Es ist nicht das erste Mal, dass sie mit scharfer Munition schießt. Aber Bier oder Zigaretten kaufen darf sie in ihrem Alter in der Ukraine nicht.

Ein Kämpfer mit langem Bart marschiert mit ihr und einem 24-jährigen Softwareentwickler von einer Bushaltestelle über Trampelpfade zu dem geheimen Trainingscamp des Bataillons „Marusias Bären“ außerhalb von Kiew. Er hat kein schlechtes Gewissen, weil er mit Minderjährigen den Partisanenkampf übt. „Wenn unsere Jungs zu feige sind, dann müssen eben solche Mädchen kämpfen“, sagt er.

Das Camp liegt in einer Talfalte mitten im Nirgendwo. Die ukrainische Armee könnte es höchstens mit einer Drohne oder einem Helikopter entdecken. Kein Kämpfer nennt seinen Namen oder lässt sich ohne Wollmaske fotografieren. Die Armee beobachtet argwöhnisch, dass sie überall im Land bewaffnete Konkurrenz bekommt. Die Freiwilligenverbände wurden inzwischen dem Verteidigungsministerium unterstellt, und „Marusias Bären“ stehen deswegen mit einem Bein im Untergrund.

„Die Soldaten klauen uns unsere Ausrüstung, weil sie selbst nichts von der Regierung bekommen“, sagt einer. Trotzdem steht der Feind für die Freiwilligen in den Separatistengebieten. Er werde noch im Frühjahr oder Sommer bei einer Offensive weit nach Westen vordringen und auch die Hauptstadt attackieren, glauben sie. Für diesen Fall wollen sie Kiewer Zivilisten im Straßenkampf ausbilden.

Mit Messern gegen Panzer?

Der Ausbilder hat keinen leichten Job. Einige Rekruten fangen schon nach ein paar Liegestützen an zu schnaufen. Der junge Mann wirkt kaum älter als Marina Lechnova. Aber er hat am Donezker Flughafen gekämpft. Die Fronterfahrung verleiht ihm Autorität, und die Kiewer schauen aufmerksam zu, als er ihnen erklärt, wie man sich mit dem Messer verteidigt. Niemand stellt die Frage, wie sie so russische Grad-Raketen aufhalten sollen.

Eine Freiwillige gibt zu, dass der geschickte Umgang mit dem Messer wohl wenig ausrichten kann gegen die Separatisten oder gar die russische Armee. Die 24-Jährige hat vor einigen Monaten ihren Job bei einem internationalen Unternehmen in Kiew gekündigt, um sich ganz um die Logistik der Truppe zu kümmern.

Jede Patrone, jeder Topf Suppe und jede Mullbinde finanziert sich aus Spenden der ukrainischen Bevölkerung. Das Geld floss zunächst im patriotischen Überschwang nach Beginn der Kämpfe im Frühjahr 2014. Viele Ukrainer schlossen sich deshalb lieber den Freiwilligenverbänden an als der schlecht ausgerüsteten ukrainischen Armee.

Mittlerweile macht die Inflation aber das Geld auf den Konten der Ukrainer wertlos. „Ich kann die Leute bloß dazu aufrufen, für uns zu spenden. Aber sie wissen ja selbst nicht, wie sie über die Runden kommen sollen“, sagt die Frau. So seien Monate vergangen, in denen die Kämpfer mit gemieteten Autos von Kiew an die Front gefahren sind. „Dann haben wir im Ausland endlich einen Geländewagen gefunden, den wir uns leisten konnten.“ Ende Februar machte aber die Inflation einen riesigen Satz nach vorne. Das gesammelte Geld reichte nicht mehr aus, um das Auto zu bezahlen, und die Bären Marusias müssen auch in Zukunft schauen, wie sie an die Front kommen.

Alle schimpfen auf die Regierung

Über wenig sind sich die Ukrainer so einig wie darin, dass sie ihre Armee und Regierung für unfähig halten. Es heißt, die Hälfte der Soldaten könne schießen, die andere Hälfte ein Fahrzeug steuern. Nur würden es die einen nie schaffen, die anderen an den richtigen Ort zu bringen. Viel wird über die schlechte Versorgung der Soldaten, schadhafte Ausrüstung und geheimgehaltene Opferzahlen diskutiert. Die neue Regierung und die sie tragenden Oligarchen würden mit Korruption am Krieg gut verdienen, sagen voller Zorn viele Maidan-Aktivisten. Der Konflikt mit Russland legt sich mit patriotischem Brimborium wie Mehltau über das Land, das sich nach der Revolution im vergangenen Jahr neu erfinden wollte.

Nachts fliegen in Kiew Pflastersteine in die Schaufenster der Filialen des Süßwarenkonzerns Roshen. Petro Poroschenko ist nicht nur Kriegspräsident der Ukraine, sondern immer noch auch der Schokoladenkönig des Landes. Viele Kiewer beobachten mit Argwohn, dass Roshen immer mehr Geschäfte in der Stadt eröffnet, während der Rest der ukrainischen Wirtschaft nach dem ersten Kriegswinter darniederliegt. Es erzürnt sie, dass Roshen seine Produkte nach wie vor in Russland verkauft.

Oleksandr Kutyenko* wird nicht für Petro Poroschenko in den Krieg ziehen. Die Armee hat den 22-Jährigen vor Kurzem einberufen, doch es gibt eine einfache Methode, die Behörden auszutricksen. Als letztes Jahr die Mobilmachung der Streitkräfte begann, hat Kutyenko seine Papiere geändert und die Heimatstadt seiner Eltern als Wohnsitz angegeben. Der Einberufungsbescheid muss in der Ukraine persönlich übergeben werden. Also klingelt ein Vertreter der Armee nun seit Wochen regelmäßig an der Tür von Kutyenkos Eltern, um dann wieder unverrichteter Dinge abzuziehen.

Die Inflation rennt davon

Wie Kutyenko machen es die meisten seiner Freunde. Aber die Angst, Kanonenfutter im Kampf gegen einen überlegenen Gegner zu sein, ist nicht der einzige Grund, warum junge Ukrainer sich vor dem Fronteinsatz drücken. Es ist auch die Wut auf die neue Regierung. „Die Regierung sagt, ich soll in den Krieg ziehen, dabei führt sie Krieg gegen mich. Gestern wollte ich mir im Supermarkt die billigsten Nudeln für 7 Hrywnja kaufen, und jetzt kosten sie plötzlich 25 Hrywnja“, sagt Kutyenko. Er hat auf dem Maidan für den Sturz von Wiktor Janukowitsch gekämpft. Zwölf Monate nach dem Sieg der Revolution hat Kutyenko zwar seinen Juristenabschluss in der Tasche, aber weder eine Anstellung in Aussicht noch Rücklagen.

Oleksandr Kutyenko hat das Gefühl, dass der Krieg, den die Ukrainer führen, sie von wichtigeren Dingen ablenkt. „Die Regierung kann nun einfach die Steuern erhöhen und sagen, es sei für den Kampf im Osten.“ Er fragt sich, ob der Donbass das Blutvergießen und den Stillstand im Land wirklich wert ist. „Gerade in den kleinen Dörfern wollen viele nicht für Menschen kämpfen, die von der Ukraine ohnehin nichts halten“, sagt er. „Aber wenn die Russen wirklich einmarschieren, dann werde ich auch zur Armee gehen.“

Blut lässt sich leicht von Plastik abwaschen. Der Bahre ist es nicht anzusehen, dass schon viele Soldaten mit blutenden Stümpfen oder hervorquellenden Gedärmen darauf lagen. Der ganze Krankenwagen ist sauber und frisch desinfiziert. Er steht im Hinterhof einer Ausgabestelle von freiwilligen Helfern in Kiew, die an Flüchtlinge und Soldaten Spenden verteilen. Am Abend wird der Krankenwagen wieder Richtung Donbass fahren.

Wer hilft, soll zahlen

„Maestro“, der als Chirurg an einer Kiewer Klinik arbeitet, wird in den darauf folgenden Tagen Kanülen legen und Schmerzmittel in zerfetztes, aufgerissenes oder verbranntes Fleisch spritzen. „Veterok“ wird aufs Gaspedal drücken, um die Verwundeten so schnell wie möglich nach Artemowsk zu bringen. Dort steht die größte Klinik im Donbass westlich der Frontlinie. Auch nach dem Minsker Waffenstillstandsabkommen vom März hätten die beiden genug zu tun, sagen sie.

„Maestro“ und „Veterok“ besorgen den Verletztentransport für die ukrainische Armee, weil deren Krankenwagen nicht schneller als sechzig Stundenkilometer fährt. Obwohl sie für den Staat in die Bresche springen, will die Regierung bald von ihnen bezahlt werden. Bei der verzweifelten Suche nach neuen Geldquellen ist das ukrainische Finanzministerium auf die Idee gekommen, eine Lizenz zu verlangen von denjenigen, die Soldaten an der Front oder Flüchtlinge im Hinterland unterstützen.

Die Partner der freiwilligen Ärzte in Kiew können sich das nicht leisten. „Die Gesellschaft sitzt in einem Boot und die Regierung in einem anderen“, sagt Lesja Litvinova nüchtern. Sie leitet die Ausgabestelle in der Kiewer Innenstadt. Die zwanzig Freiwilligen dort haben sich alle auf dem Maidan kennengelernt. Und wie auf dem Platz der Revolution organisieren die Helfer ihren Arbeit nach dem Prinzip „Eine Hand wäscht die andere“.

Die Spendenbereitschaft sinkt

Eine Kette von freiwilligen Hilfeleistungen scheint die Ukraine noch über Wasser zu halten. Aber die schwindenden Ressourcen lässt sie Tag für Tag brüchiger werden. Auch das Zusammengehörigkeitsgefühl schwindet. Kiewer Bürger halten sich mit Spenden zurück, weil sie nichts mehr geben können. Andere beschimpfen die Freiwilligen, weil sie Kleider und Essen nur an Soldaten und Flüchtlinge verteilen und nicht an die Kiewer, denen es doch auch immer schlechter geht. Letztlich können sich die Helfer selbst kaum noch helfen.

Lesja Litvinova hat ihren Job für ihre Freiwilligenarbeit aufgegeben, und das Gehalt ihres Mannes reicht hinten und vorne nicht. „Ich zahle seit Monaten keine Miete mehr, sagt sie. Um den Hals trägt sie eine Kette mit einem Gummigeschoss. Ein Arzt hat es im vergangenen Jahr in Litvinovas Wohnung aus der Schulter eines Demonstranten entfernt. „Damals war bei uns eine Untergrundklinik untergebracht“, sagt sie. Wenn es sein muss, würde sie ihre Freiwilligenarbeit auch ohne staatliche Lizenz fortzusetzen. „Irgendwie wird es weitergehen.“

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