Essay Aufstieg des Islamischen Staates: Die doppelte Schuld der USA

Mit dem Irak-Krieg und der Tatenlosigkeit in Syrien haben die USA Terroristen gestärkt. Der Westen muss jetzt engagiert handeln.

Kämpfer der schiitischen Hisbollah-Brigade im Kampf gegen die Dschihadisten der IS. Bild: dpa

Es klingt wie ein Déja-vu: „Die Amerikaner bombardieren Ziele im Irak.“ Doch die derzeitigen Angriffe auf Stellungen der Terrorgruppe Islamischer Staat (IS) haben nichts mit dem US-Einmarsch von 2003 gemeinsam. Im Gegenteil. Sie sind hoffentlich die Abkehr von einem Jahrzehnt verfehlter US-Außenpolitik.

Denn so katastrophal die Folgen des von imperialistischen Interessen geleiteten Interventionismus eines George W. Bush waren, so verheerend ist auch das Ergebnis der krampfhaften Nicht-Einmischung Barack Obamas. Was wir heute im Irak und in Syrien erleben – den Zerfall zweier Staaten, die Auflösung nationaler Grenzen und den Aufstieg einer Miliz, die in ihrer menschenverachtenden Grausamkeit selbst Al Qaida in den Schatten stellt – all das hat auch mit der Ignoranz und Orientierungslosigkeit westlicher Nahostpolitik zu tun.

Beginnen wir im Irak. 2003 trugen die Amerikaner den Krieg in den Irak. Sie stürzten Saddam Hussein, lösten die irakische Armee und die Baathpartei auf und versuchten, mit eigenen Soldaten Ruhe und Ordnung herzustellen. Hunderttausende Iraker – Soldaten, ehemalige Führungskader und Beamte – standen vor dem Nichts und fanden im Widerstand gegen die US-Truppen ein neues Betätigungsfeld.

Unter Abu Musab al-Zarqawi formierte sich „Al Qaida im Irak“ (AQI). Das Land entwickelte sich zum Sammelbecken für Dschihadisten aus aller Welt. Ende 2006 wurde aus „Al Qaida im Irak“ der „Islamische Staat im Irak“ (ISI), der 2008 in den Untergrund gedrängt wurde.

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Expansion nach Syrien

Anfang 2013 expandierte ISI ins zerfallende Syrien und nannte sich fortan Islamischer Staat im Irak und in Syrien (ISIS). Kurz darauf kam es zum Bruch mit Al Qaida, deren syrischer Ableger, die Nusra-Front, dem ISIS-Chef Abu Bakr al-Baghdadi die Gefolgschaft verweigerte. Baghdadi arbeitet seitdem auf eigene Rechnung an der Errichtung eines Kalifates im historischen „Bilad Al-Sham“, also im Irak, in Syrien, Jordanien, dem Libanon und in Palästina. Seit der Anfang Juni begonnenen Offensive im Nordirak nennt sich ISIS nur noch IS (Islamischer Staat), Baghdadi tritt als Kalif auf.

In Syrien kämpften die Dschihadisten zunächst nicht gegen die Assadsche Armee, sondern um die Vorherrschaft in den zuvor von syrischen Rebellen befreiten Gebieten. Damit schwächten sie den Widerstand gegen Assad zusätzlich, was dem syrischen Regime gelegen kam und deshalb geduldet und mitunter gefördert wurde.

Die Rebellen der Freien Syrischen Armee (FSA) und ihrer Überreste sowie die Kämpfer der Islamischen Front – Syriens lokaler Islamistenverbände – haben seitdem zwei Feinde. Aber sowohl gegen Assads Bombenterror aus der Luft als auch gegen den Enthauptungsterror von IS auf dem Boden sind sie ohne westliche Unterstützung machtlos.

Indem die USA und Europa weitgehend tatenlos zusehen, wie das syrische Regime Zivilisten bombardiert, zu Tode foltert, vergast und aushungert, verraten sie ihre eigenen Werte. Statt die von Deserteuren gegründete Freie Syrische Armee frühzeitig zu einer alternativen syrischen Armee aufzubauen oder zumindest konsequent die gemäßigten Rebellen aufzurüsten (die sich für ein Zusammenleben aller Konfessionen und Volksgruppen aussprechen), überließ der Westen die Unterstützung und damit Beeinflussung der bewaffneten Opposition der Türkei, Qatar, Saudi-Arabien und später Al Qaida.

Die USA und ihre Verbündeten haben also gleich zweifach zum Aufstieg des Islamischen Staates beigetragen. Im Irak haben sie die Basis für die Terroristen geschaffen, in Syrien haben sie ihnen das Machtvakuum überlassen. Indem sie einen Krieg begannen – den im Irak – und den anderen nicht beenden geholfen haben – den Vernichtungskrieg des Assad-Regimes gegen die Syrer – tragen sie große Verantwortung für das Leid der Menschen in der Region. Und genau deshalb muss der Westen jetzt handeln.

Nur die Rettung der Zivilisten zählt

Aber Vorsicht, die Lage ist kompliziert. Auf der Suche nach einem Mittelweg zwischen Imperialismus und Ignoranz gilt es zu berücksichtigen:

Erstens, beim Kampf gegen IS darf es nicht um politische Ziele und nicht um wirtschaftliche Interessen gehen, nicht einmal um „unsere Werte“. Sondern einzig und allein um die Rettung von Zivilisten, um deren nacktes Überleben. Nur das völkerrechtliche Prinzip der Schutzverantwortung rechtfertigt militärisches Eingreifen.

Waffen gibt es schon genug in der Region? Stimmt, Assad und IS haben alles, was sie brauchen. Nur den Peshmerga und der FSA geht die Munition aus – Pech für alle, die auf ihren Schutz angewiesen sind.

Zweitens, der Westen sollte so wenig wie möglich selbst militärisch aktiv werden. Keine Bodentruppen, keine Besatzung, stattdessen Hilfe zur Selbsthilfe. Alle nicht-staatlichen bewaffneten Gruppen, die dem Islamischen Staat entgegentreten, müssen unterstützt werden – egal ob im Irak oder in Syrien. Da IS sein Kalifat über Grenzen hinweg errichtet, müssen wir aufhören, in nationalstaatlichen Kategorien zu denken.

Im Nordirak bekämpfen die Peshmerga, in Nordosten Syriens die kurdischen PYD-Kämpfer, im Umland von Damaskus die Islamische Armee (ein Mitglied der Islamischen Front) und in Südsyrien die Freie Syrische Armee, die IS. Sie sind es, die Zivilisten beschützen, also sind sie unsere Verbündeten.

Drittens, nur die Sunniten der Region können IS dauerhaft besiegen. Denn nur sie können den Terroristen ideologisch das Wasser abgraben, indem sie gemäßigte Islamisten und anerkannte Religionsgelehrte für den Kampf gegen IS gewinnen und damit all jene, die nur aus opportunistischen Gründen mit der Terrorgruppe paktieren, auf ihre Seite ziehen.

Viertens, die Hilfe darf sich nicht auf die Kurden beschränken und sie darf nicht nur religiöse Minderheiten im Blick haben. Nicht Christen, sondern Muslime sind die Hauptopfer der Gewalt in der Region. Waffenlieferungen an die Peshmerga im Nordirak sind richtig und wichtig, aber der Westen darf den Zwist zwischen Kurden und Arabern nicht noch befeuern. Schon jetzt wachsen Misstrauen und Hass zwischen den beiden Volksgruppen. In der jetzigen Auseinandersetzung mit IS müssen Araber und Kurden, Sunniten, Schiiten, Christen, Jesiden, Alawiten, Drusen und Ismaeliten eine einheitliche Front gegen den Terror bilden.

Keine Kooperation mit Assad

Fünftens muss sich der Westen vor falschen Verbündeten hüten. Das Assad-Regime hat mit seiner hemmungslosen Gewalt und seiner Propaganda, die Regierung Maliki mit ihrer Ausgrenzungspolitik dem Islamischen Staat den Weg geebnet. Sie sind die Ursachen des Vormarsches der Dschihadisten, nicht Teil der Lösung. Weder Assad noch Maliki dürfen deshalb Verbündete im Kampf gegen den Terror werden.

Im Falle Malikis haben westliche Staatsführer das bereits begriffen und hoffen auf eine Konsensregierung unter dem designierten Ministerpräsidenten Haidar al-Abadi. Im Falle Assads scheint so mancher Politiker dagegen auf dessen Mär vom „Garanten für Stabilität und Schutzpatron der Minderheiten“ hereinzufallen. Zur Erinnerung: Assad bezeichnet jeden, der sich gegen ihn stellt, als Terroristen: Schulkinder, friedliche Demonstranten, christliche Filmemacher, alawitische Deserteure, Medikamente schmuggelnde Frauen, Journalisten und Ärzte.

Und was Assads Schergen mit syrischen Zivilisten machen, ist nicht besser als der Terror von IS. Ihre Verbrechen gegen die Menschlichkeit: erstochene Kleinkinder, Massenvergewaltigungen, zu Tode gefolterte Gefangene, Aushungern ganzer Stadtteile, Fassbomben auf Wohngebiete sowie Angriffe auf Kliniken und Bäckereien. Der einzige Unterschied ist, dass sich die Dschihadisten mit ihren medial inszenierten Gräueltaten brüsten, während die Machthaber in Damaskus sie vertuschen und verleugnen.

Seit Jahren ist westliche Außenpolitik im Nahen Osten kurzsichtig, kontraproduktiv und verlogen. Was wir jetzt brauchen, ist eine kluge Mischung aus Engagement und Zurückhaltung. Wo Völkermord droht oder stattfindet, müssen wir Zivilisten mit allen Mitteln schützen. Sobald die Gefahr gebannt ist, sollten wir uns auf humanitäre Hilfe und Wiederaufbau beschränken. Eine politische Neuordnung und gesellschaftliche Entwicklungen sind Sache der Iraker und Syrer, sie müssen ihren Weg zu Mitbestimmung und Machtverteilung finden, alleine gegen Korruption, patriarchale Strukturen und Autoritarismus vorgehen. Wir können lokale zivilgesellschaftliche Kräfte, die in diesem Sinne wirken, fördern, mehr nicht.

Was Iraker und Syrer einfordern und verdienen, ist unseren Respekt – als Opfer des Terrors und als Partner im Kampf dagegen. Indem wir Menschenrechte nicht mehr nur proklamieren, sondern uns auch dafür einsetzen, machen wir die Bevölkerungen der Region zu unseren Verbündeten. Und dann werden wir im Nahen Osten etwas Entscheidendes zurückgewinnen – unsere Glaubwürdigkeit.

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