Silvester-Sause in Berlin: Die Eine-Million-Menschen-Frage

Wahrscheinlich feiern ganz offiziell wieder eine Million Menschen am Brandenburger Tor. Diese Zahl ist falsch: Für so viele reicht der Platz gar nicht.

Hätte Silvester 1989 jemand gezählt, wären sicher auch eine Million Menschen am Brandenburger Tor gewesen. Bild: dpa

BERLIN taz | Es wird ohne Zweifel die größte Feier des Jahres. Zwischen Brandenburger Tor und Siegessäule gebe es erneut ein „Event der Superlative“, wirbt die Silvester in Berlin GmbH auf ihrer Homepage. „Die Partymeile erstreckt sich über 2 Kilometer und insgesamt 80.000 qm Veranstaltungsfläche“, heißt es weiter. „Über eine Million Besucher“, steht dort gleich zweimal, „machen Silvester in Berlin zu einem der weltweit größten Events.“ Seit Jahren schon wird diese Zahl immer wieder zum Jahreswechsel genannt. Das Problem ist: Kämen tatsächlich so viele, wäre das eine Katastrophe.

Spätestens seit der Loveparade 2010 in Duisburg sollte bekannt sein: Mit Besucherzahlen von Massenveranstaltungen ist nicht zu spaßen. Dort kamen 21 Menschen im Gedrängel ums Leben. In einem Gutachten für die Staatsanwaltschaft zur Duisburger Katastrophe schrieb Keith Still, britischer Professor für Massendynamik, bei 2 bis 3 Besuchern pro Quadratmeter gebe es noch ausreichend Platz. Schon ab 4 bis 5 Besuchern auf der gleichen Fläche bestehe die Gefahr, dass Menschen stolpern und verletzt werden. Direkt am Unfallort in Duisburg, wo sich Menschen in Panik tottrampelten, zählte Keith Still anhand von Fotos 8 bis 10 Menschen pro Quadratmeter.

Kämen in Berlin tatsächlich 1.000.000 Menschen zur Silvesterparty, müssten sich auf dem Festareal 12 Menschen auf jedem Quadratmeter drängeln. Ein Ding der Unmöglichkeit.

Das weiß man zum Glück auch bei der Silvester in Berlin GmbH, die als Veranstalter für das Sicherheitskonzept zuständig ist. Die Million werde aus Marketinggründen genannt, gibt Sprecherin Doren Kinzel zu. Aber die Zahl sei nicht unrealistisch – wenn man alle mitzähle, die zwischen dem 30. Dezember und Neujahr zur Silvestermeile kämen, etwa zu den Generalproben am Vortag. „Da ist einiges an Durchlauf“, behauptet Kinzel. Wie viele Menschen am Brandenburger Tor tatsächlich ins neue Jahr feiern, könne sie nicht sagen. Da müsse man die Sicherheitsbehörden fragen.

Auf die Verteilung kommt‘s an

Oberste Genehmigungsbehörde für solche Open-Air-Veranstaltungen ist die „Verkehrslenkung Berlin“ bei der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung. Die kümmert sich aber, wie ihr Name schon sagt, vor allem um Umleitungen. Das Sicherheitskonzept des Veranstalters wird vom Bezirk kontrolliert. In Mitte ist dafür Harald Büttner, Leiter des Flächen- und Tiefbauamtes, zuständig.

Die Tourismusgesellschaft Visit Berlin rechnet zum Jahreswechsel mit rund zwei Millionen Gästen in der Stadt. "Die Buchungslage ist sehr gut, es gibt aber noch Zimmer", sagte Sprecher Christian Tänzler. Bei einer der größten Open-Air-Partys der Welt wird zwischen Siegessäule und Brandenburger Tor auf zwei Kilometern Länge der Jahreswechsel gefeiert.

Am Silvesterabend sollen unter anderem Scooter, Heino oder Frida Gold für Partystimmung sorgen. Der Sänger Milow sagte nach Veranstalterangaben ab. Neben dem Musikprogramm wollen viele das Feuerwerk um Mitternacht erleben. Auch mehrere Fernsehsender schalten dann nach Berlin, wenn elf Minuten lang etwa 6000 Raketen gezündet werden sollen.

"Wir gehen von mehreren Hunderttausend Besuchern aus", sagte eine Veranstaltungssprecherin. Insgesamt könnten bei gutem Wetter bis zu einer Million Menschen auf der Partymeile feiern. Bereits am Montag gab es dort ein Unterhaltungsprogramm und offene Verkaufsstände. (dpa)

Zwei bis sechs Monate dauere es, bis das Sicherheitskonzept mit den Veranstaltern abgesprochen sei, sagt Büttner. Polizei, Feuerwehr, Sanitätsdienste werden einbezogen. Zugänge, Fluchtwege, Ansprechpartner, ja sogar der Text für Lautsprecherdurchsagen, falls zum Beispiel ein Unwetter aufziehe, würden festgelegt.

Und die Zahl der Besucher? „Mich interessiert die Gesamtsumme nicht“, sagt Büttner. Wichtiger sei die Verteilung der Menschen. Um die zu kontrollieren, werden klar definierte Orte regelmäßig zu festgelegten Zeitpunkten mit hochsensiblen Kameras fotografiert, die selbst nachts scharfe Bilder liefern. Die werden auf ein Raster gelegt und auf einem Bildschirm in der Koordinierungsstelle gezeigt, wo Büttner die Nacht mit Vertretern von Polizei und Veranstalter verbringt. „Und dann zähle ich durch: 2, 3, 4“, erklärt Büttner. Sind mehr als 4 Besucher pro Quadratmeter zu sehen, würden die Eingänge zu diesem Abschnitt geschlossen.

300.000 Menschen sind möglich

Kritisch werde es vor allem, wenn die Menge auf der Straße des 17. Juni in Bewegung sei, sagt Büttner. Dann gebe es Alarm! „Ich sage meine Leuten immer, stellt euch vor, dass eure Liebsten dahin gehen.“ Das sei der Maßstab für das Sicherheitskonzept. So richtig „pickepackevoll“ wird es laut Büttner aber meist nur zwischen Brandenburg Tor und Yitzhak-Rabin-Straße. Das ist gerade mal ein Viertel der Festmeile.

Wenn aber im Schnitt deutlich weniger als 4 Menschen pro Quadratmeter dort sind und man zudem noch den Platz für Buden, Bühnen, Klos und das Riesenrad abziehen muss, dann können auf den 80.000 Quadratmetern kaum mehr als 200.000 Menschen feiern, oder? „Na ja“, sagt Büttner. Er ist nicht kleinlich und rechnet hoch, „wenn Sie die Leute Unter den Linden auf der anderen Seite des Brandenburger Tors mitrechnen, dann sind 300.000 schon möglich“.

Mehr geht nicht. Aber so viel Realismus ist schlecht fürs Geschäft. Denn ähnlich viele kommen nach Angaben der Stadtmarketingfirma visitBerlin auch bei der Konkurrenz in London (250.000) und Paris (340.000). Und die gilt es weit hinter sich zu lassen, zur Not durch marktscheierische Selbsthypnose. „Zum Jahreswechsel ist unsere Stadt die touristische Nummer eins in Europa“, jubelte Burkhard Kieker, Geschäftsführer von visitBerlin, kurz vor Weihnachten und begründete das, na klar, mit „bis zu einer Million Besucher zwischen Siegessäule und Brandenburger Tor“. Nach Weihnachten sprach er im Tagesspiegel gar von zwei Millionen Besuchern.

Damit ist zumindest eins sicher: Berlin ist die Nummer eins im Wahnsinnig-Übertreiben.

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