Leise Verwandlung

Neue Töne Klassisch ausgebildet, dem Jazz zugeneigt: Die Münchner Cellistin Anja Lechner liebt es in ihrem Spiel pianissimo, ihr Auftritt am Sonntag im HAU markiert auch einen Musikkurator-Wechsel dort

Offen für Improvisation: die Cellistin Anja Lechner Foto: Andrea Boccalini

von Julian Weber

Es gibt ein Leben neben dem Krach. Eines neben dem Beat und eines neben der Dissonanz. Bei ihrer Suche nach Ruhe, Ausgeglichenheit und innerer Balance werden gestresste Großstadtbewohner in jeder Hinsicht bei der Münchner Cellistin Anja Lechner fündig. Lechner konzentriert sich in ihrer Spielweise auf die leise Dynamik des Pianissimo.

Im sehr leisen Spiel entlockt sie ihrem Instrument behutsame Klänge mit durchaus langem Nachhall. In ihren Aufnahmen, die sie ausschließlich für das Münchner Label ECM aufnimmt, sind die leisen Töne eindeutig in der Überzahl. „Das Geheimnisvolle und sein Flüsterton“ reize sie einfach mehr, bekennt die 54-Jährige im Gespräch: „Es sind Klänge, zu denen das Ohr erst hinwandern muss. Vor Lautstärke muss sich das Ohr hingegen manchmal verschließen. Beim Pianissimo komme ich als Musikerin zwar an die Grenzen des Machbaren oder Hörbaren, aber wenn ich mich darauf einlasse, bin ich hinterher wie verwandelt.“

Ungewohnt neue Töne

Ja, das sind ungewohnte neue Töne, die nach dem Abgang des popaffinen Musikkurators Christoph Gurk nun am HAU erklingen. Wenn Lechner, die mehrfach preisgekrönte Klassikinterpretin am morgigen Sonntag im Duo mit dem französischen Jazzpianisten Fran­çois Couturier Werke von Var­da­pet, Mompou und Gurdjieff und Couturiers Eigenkompositionen interpretiert, gibt auch Gurks Nachfolgerin Zuri Maria Daiß ihren Einstand. Als Schwerpunkt hat sich Daiß vorgenommen, „an den Schnittstellen von Peripherie und Zentrum, Stadt und Land zu arbeiten“. Fast lautlos hat sie Gurks Arbeit übernommen.

Und das Lautlose, sagt Anja Lechner, sei Teil ihrer Weniger-­ist-mehr-Philosophie: „Meine Idealvorstellung ist, dass ich in einer Note alles sagen kann. Sie soll alles erzählen. Ich arbeite deshalb sehr viel am Klang. Auch da ist mir die leise Dynamik näher als die opulente Lautstärke.“ In Lechners Lebenslauf stehen – typisch für eine Klassikinterpretin – die Lehrer an oberster Stelle: Heinrich Schiff, bei dem sie in Köln und Basel studierte, und János Starker, unter dessen Ägide sie in Bloomington im US-Bundestaat Indiana und mit einem Stipendium der Studienstiftung lernte.

Von ihren Studienkollegen unterscheidet Lechner, dass ihr die Arbeit in einem Orchester widerstrebt. Dafür schätzt sie die künstlerische Freiheit zu sehr. Sie hat immer mit Streichquartetten und in Duos gespielt. So etwa mit dem Liedermacher Peter Ludwig, mit dem sie Tangolieder entwickelte, oder mit dem argentinischen Bandonéon-Spieler Dino Saluzzi. Von 1991 bis 2009 war Lechner auch Teil des Rosamunde Quartetts, dessen Einspielungen für ECM mehrfach ausgezeichnet wurden. „Ich bevorzuge die kleinere Form, weil da ein wirklicher Dialog leichter herzustellen ist. Das ist wie im Privaten: Ich treffe mich lieber mit einem Freund, als dass ich auf eine große Party gehe. Das entspricht mehr meinem Charakter.“

Das Cello kommt dem Variantenreichtum einer menschlichen Stimme am nächsten, auch optisch gleicht es der Silhouette des menschlichen Körpers. Wenn Lechner Cello spielt, klingt es sehr nach Körper, sie bringt das Holzgehäuse zum Klingen, die Hörer merken, dass da eine Bassgeige ertönt. „Ich kann damit fast genauso hoch spielen wie auf einer Geige und habe trotzdem die sonore Tiefe. Für mich selbst ist beim Spielen besonders, dass ich dabei mit dem Instrument durch meine Hände verbunden bin, über die zwei Knie innen und das Herz, denn da liegt es an. Die Vibra­tio­nen der Töne übertragen sich direkt.“

Bemerkenswert für eine klassisch ausgebildete Cellistin ist zudem Lechners Hinwendung zur freien Improvisation. Das hat sicher auch mit dem Einfluss ihres Labels ECM zu tun, das in den siebziger Jahren als einer der ersten Adressen des europäischen Jazz galt, aber stets offen für US-Jazzmusiker war und sich allmählich auch zu einer Produktionsstätte für Klassik und zeitgenössischer Musik erweiterte. „Ich möchte gar nicht zwischen einzelnen Genres differenzieren: Ich spiele Musik, die mich anspricht. Bei der ich das Gefühl habe, dabei kann ich mich entfalten und entwickeln. Das ist mein musikalisches Zuhause, aber dafür gibt es keinen Begriff.“

„Mich reizt das Geheimnisvolle und sein Flüsterton. Klänge, zu denen das Ohr erst hin­wandern muss“

Anja Lechner

Von sich selbst sagt Lechner, sie sei ein Kind von ECM. Dass ECM auch der Ruf des Esoterischen anhaftet, lässt sie nicht unwidersprochen. „ECM heißt ja eigentlich Editions of Con­tem­porary Music. Und das ist ein Begriff, für dessen Existenz ich sehr dankbar bin. Es ist ein Zuhause, bei dem die Grenzen sehr weit gefasst sind. Was ist Jazz? Louis Armstrong? Keith Jarrett?“

Im Zusammenspiel mit Couturier wird eine impressionistische Form von Jazz hörbar, genauso erklingen Motive aus der Romantik oder Elemente der ost­europäischen Folklore darin an und etwas Meditatives.

„Das Besondere am Zusammenspiel mit Couturier ist, dass wir uns gar nicht mehr anschauen müssen. Die Musik kommt in einen Fluss. Das ist wie bei einem angeregten Gespräch. Auf der Bühne fließen unsere Klänge zusammen, damit Harmonie entsteht. Die Grenzen zwischen notierter und improvisierter Musik sind bei uns fließend. Solange man sich auf gleicher Wellenlänge bewegt, dabei immer in der Musik bleibt, ist vieles möglich.“

Ihr gemeinsames, nach einem Roman von Marguerite Duras benanntes Album „Moderato Cantabile“ öffnet diesen Möglichkeitsraum sehr anschaulich. Gerade auch Couturiers Eigen­kompositionen zerfließen zu einem molligen, herbstlich wirkenden Wackelbild. Frischluft tut danach sicher gut.

Anja Lechner & François Couturier: HAU 1, Stresemannstr. 29, Sonntag, 20 Uhr