Deformierte Füße im Kopf

GUTENACHTMUSIK Max Richters Langkomposition „Sleep“ verspricht ein Schlaflied von achteinhalb Stunden Länge. Ein Selbstversuch

Der Musik wird ja eine enge Verbindung zum Unbewussten nachgesagt. Seit der Barde Orpheus in den Hades hinabgeeilt ist, um seine Frau Eurydike aus der Unterwelt zurückzufordern, wird die besondere Macht der Töne ausgiebig in Kunst und Wissenschaft beschworen. Wobei Musik auch ohne Mythen-Verweis ziemlich unmittelbar auf das Gemüt von Menschen einwirkt, sofern sie Ohren zum Hören haben.

Max Richters jüngstes Werk „Sleep“ gibt sich wie ein Tonkunst gewordenes Schlaflabor-Experiment zur Erforschung des Unbewussten: Achteinhalb Stunden dauert die vollständige Version, während der Bettruhe zu verabreichen. Man könnte sie sicher auch bei Tag hören, was mit einiger Wahrscheinlichkeit dem einen oder anderen Nickerchen zwischendurch Vorschub leisten dürfte. Hier soll es aber um den sachgemäßen Gebrauch dieses Gutenachtlieds in stark ausgedehnter Version gehen. Der unter anderem vorsieht, dass man das Stück über durchschläft.

Beim ersten Selbstversuch läuft fast alles wie nach Plan. Zu Beginn erklingen die von Max Richter höchstpersönlich gespielten, sanft angeschlagenen Klaviertöne mit ihrer langsam absteigenden Linie. Kurzes Nachdenken, ob die Lautstärke vielleicht doch einen Hauch zu stark eingestellt ist, wenig später werden diese Bedenken vom wunschgemäß eintretenden Schlaf zerstreut.

Gegen 4.30 Uhr unvermitteltes Erwachen. Zum Klavier hat sich eine Geige hinzugesellt, vermutlich der Musiker Ben Russell, und jetzt nervt die Musik bei der gewählten Lautstärke dann doch ein bisschen. Doch auch diesmal währt die Irritation nicht lang, irgendwann scheint der Halbschlaf wieder erreicht, in dem die Geige noch eine Weile den einsetzenden Traum begleitet. Am Morgen erklingen wieder die absteigenden Harmoniefolgen, diesmal um Streicher ergänzt. Angenehm. Die psychischen Auswirkungen auf das mutmaßlich im Schlaf Gehörte bleiben allerdings im Ungewissen.

Der zweite Versuch erfolgt unter weniger günstigen Bedingungen. Diesmal will es mit dem Einschlafen so gar nicht klappen, obwohl die Lautstärke knapp oberhalb der Hörschwelle eingepegelt ist. Also mal in aller Ruhe hören, was einem da so hinter dem Rücken überhaupt zugemutet wird. Die Klaviertöne vom Anfang laufen eine ganze Weile, später kommen Streicher hinzu, dann wechseln die Harmonien zu einer leicht aufsteigenden Sequenz, die wie die Teile zuvor sehr langsam, kontrolliert und zart vorgetragen ist.

Eine weitere, dynamischere Sequenz mit leicht kreiselnder Melodie erscheint fast zu unruhig für den Anlass. Wer weiß, womöglich ein Tiefschlafphasen-Intermezzo. Allmählich beginnt das Hören wellenartig zu werden, die Musik schiebt sich immer wieder in den Hintergrund, tritt zurück ins Bewusstsein, um erneut von Grübeleien verdrängt zu werden.

Schließlich tauchen vor dem inneren Auge eigenartige Bilder auf. Etwa ein Gebilde, das halb an eine Skulptur, halb an ein Milchhörnchen mit unappetitlich rauer Oberfläche denken lässt. Das Motiv kommt in variierter Form zurück, beim zweiten Mal ragt ein deformierter Fuß in den Vordergrund, der wie von einer Erdkrume umgeben ist. Könnte auch aus einem Gemälde von Dalí stammen. Keine Ahnung, ob das von der Musik hervorgerufen wird oder von der insomnialen Erschöpfung.

Das Einsetzen der Violine signalisiert, dass man inzwischen seit fast vier Stunden der Einschlafmusik mehr oder minder bewusst folgt. Klarer Fall von Zweckentfremdung. Danach übernimmt endlich Morpheus. Unbewusst – höchste Lust.

Tim Caspar Boehme