Wie Rungholt zum Regional-Epos wurde: Glanz aus einer fernen Zeit

Der Rungholt-Mythos, von einem Pastor erfunden, war eigentlich als moralisierendes Lehrstück gedacht. Aber die Leute fassten ihn als Regionalepos auf, im 19. Jahrhundert nochmals gepusht durch Liliencrons Ballade „Trutz, blanke Hans“, die aus dem Örtchen eine zweites Rom machte

Zwischen Dichtung und Wahrheit: Rekonstruierte Rungholt-Karte von 1652. Foto: Horst Pfeiffer/dpa

NORDSTRAND taz | Fast wäre die Erinnerung mit ertrunken. 300 Jahre lang ruhte die Geschichte von Rungholts Untergang nur fragmentarisch im Kollektivgedächtnis, die schaurige Geschichte der großen „Mandränke“ von 1362, die Rungholt sowie große Teile der nordfriesischen Küste verschlang. Tausende ertranken, weil Gott angeblich einen Hostienfrevel rächte.

In Wirklichkeit wusste man lange Zeit nicht, ob Rungholt je real existiert hatte. Vor einigen Jahren erst fand der Hobby-Historiker Albert Panten den Namen in einem Buch von 1345, das Abgaben der Kirchgemeinden an den Bischof aufführte. Mehr Information gab es nicht; bis heute weiß niemand, wo der Ort exakt lag.

Umso erstaunlicher, dass diese Geschichte bis heute eine der bekanntesten der Gegend ist. Woher also kam der Mythos von den reichen Rungholtern, die das Meer verhöhnten? Die einen Pfarrer aufforderten, eine Sau zu segnen und den Abendmahlskelch mit Bier zu füllen, woraufhin Gott eine Sturmflut schickte?

Die wohl bekannteste Version der Geschichte entstand wohl eher durch Zufall – und eine zweite Flut: Als Pastor Henricus Heimreich nämlich 1666 die Chronik der „Zweiten Mandränke“ von 1634 schrieb, fiel ihm ein, dass es da schon mal etwas gegeben hatte: eine Vorläuferflut, über die es nichts Schriftliches gab, weil die wenigen überlebenden Schreibkundigen anderes zu tun hatten.

Und da Heimreich nicht nur Chronist, sondern auch Geistlicher war, witterte er die Chance, zwei aufeinander folgende Sturmfluten als Beweis dafür zu deuten, dass die Menschen weiter gesündigt hatten. Was deren sofortige Reue samt Spende erforderte.

Gesagt – getan: Die Geschichte von „Rungholt“, die in zahlreichen Überlieferungen kursierte, die alle von einen Hostienfrevel mittels einer Schweine-Mensch-Vertauschung berichteten, lag Heimrich wohl vor, wenn auch nicht ganz klar ist, bei welcher Version er sich bedient hat.

Alsdann gab der Pastor die Nordstrander Sage von den vier überlebenden Jungfrauen hinzu. Und schließlich den Mythos von der am Meeresgrund weiter existierenden Stadt, die gelegentlich durch Glockengeläut auffällt. Er stammt aus einer Sage vom in der Ostsee untergegangenen Vineta.

Fertig war die Komposition, aus dem moralisierenden Pfaffentext war unversehens ein Regionalepos geworden, das fortan als solches kolportiert wurde. Und das der Katastrophe Sinn verlieh, sie erträglicher machte: Wenn der Mensch Sturmfluten verursacht, kann er sie auch vermeiden und ist der Natur nicht mehr ausgeliefert.

Offenbar haben die Leute das gebraucht. Sie kauften Heimreichs Chronik, sogen die Sage begierig auf. Jedenfalls anfangs; in den folgenden 200 Jahren hörte man wenig von ihr – bis sich im 19. Jahrhundert, getrieben durch die keimende nationale Begeisterung, Sagensammler auf den Weg machten.

Für Schleswig-Holstein hat das Karl Müllenhoff getan; seine 1845 edierte Sammlung war eine Super-PR für die Rungholt.-Sage. Die Literaten folgten: Hans Christian Andersen und Theodor Storm verarbeiteten den Stoff in Romanen und Erzählungen. Johannes Dose verfasste den historischen Roman „Rungholts Ende“, der kürzlich neu aufgelegt wurde.

Der eigentliche Blockbuster stammt allerdings von Detlev von Liliencron: Seine Ballade „Trutz, blanke Hans“ von 1882 wurde Schulbuch-Renner bis in die 1950er Jahre hinein. Das lag auch daran, dass er den Friesen schmeichelte: Aus der kleinen Marschsiedlung Rungholt wurde ein zweites Rom, Nordfriesland quasi zur antiken Hochkultur. Wenn man zudem bedenkt, dass Rungholt dereinst auferstehen soll, wäre das jetzige Nordfriesland ein Transit zwischen zwei glänzenden Epochen.

Dem NS-Regime gefiel der Stoff dann weniger: Man wollte Land gewinnen, baute den Hitler- und den Göring-Koog und blendete deren Zerstörbarkeit aus. „Wer über Rungholt sprach oder schrieb, bekam den Mund verboten“, sagt Forscher Albert Panten.

Derzeit erlebt der Stoff eine Renaissance: In Derek Meisters historischen Krimis recherchiert Kommissar Rungholt, Flutüberlebender. Kari Köster-Lösche schrieb den historischen Roman „Die letzten Tage von Rungholt“. Und der Protagonist von Jan Christophersens 2009 ediertem Roman „Schneetage“ forscht geradezu besessen nach Rungholt.

Dieser Ort ist nicht mehr bloß Synonym der 1362er-Sturmflut insgesamt. Er steht inzwischen auch für Identitätssuche und Ahnenforschung. Und vielleicht treibt manch heutigen Rungholt-Wattwanderer die irrationale Hoffnung, von einem Überlebenden abzustammen und ganz konkret Teil des Mythos zu sein.

Andererseits lässt sich der Stoff in Zeiten des Klimawandels als ökologisches Lehrstück lesen: Der Meeresspiegel steigt, auch erhöhte Deiche können brechen. Wird Hamburg das nächste Rungholt? Aber nein, unsere Deiche sind sicher.

Das haben die Rungholter auch gedacht.

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