Staatsbürgerschaft nach dem Brexit: Elke will Britin werden

Seit 30 Jahren lebt Elke Heckel in London. Nach dem Brexit-Votum steigt die Ausgrenzung. Dennoch begibt sie sich in den Einbürgerungsprozess.

Elke Heckel in einem Zimmer mit Papieren am Boden

Elke Heckel und ihr Papiersalat Foto: Daniel Zylbersztajn

LONDON taz | Elke Heckel, 54, Wahllondonerin aus Hackney, war selten so engagiert. Im Februar stand die Deutsche und gebürtige Nürnbergerin noch geduldig in der Schlange vor dem britischen Parlament. Damals wollte sie mit ihrer Parlaments­abgeordneten, Labours Diane Abbott, ein Wörtchen reden. Anlass war ein Massenlobbytag, zu dem verschiedene Organisationen, die die EU-Bürger in Großbritannien repräsentieren, aufgerufen hatten. Während sie Abbott an diesem Tag nicht zu sehen bekam, erhielt sie zumindest einen Brief mit der Zusicherung, dass sich die Labourdame für die Rechte der EU-Bürger einsetzen werde.

Einen Monat später marschierte sie dennoch wieder, diesmal unter Zehntausend anderen auf einer großen EU-Demo durch London. Im April, bei einem Besuch in ihrer Wohnung im zwölften Stock eines 70er-Jahre-Wohnbaus, kamen schließlich die ersten Anzeichen von Müdigkeit auf.

Etwas genervt blickte sie aus ihrem Wohnzimmerfenster, von dem aus man über die offenen Wasserreservoirs Stoke Newingtons hinweg sieht. Aufgeben, das sei gegen ihre Natur, persönlich und als ausgebildete Hebamme sei sie positiv und für alles Unvorhergesehene vorausplanend. „Ja, einen schönen Ausblick habe ich schon von hier, aber was sind das für Aussichten!“, bemerkte sie damals.

Seit dem Referendum quält sie der Gedanke, dass sie nach 30 Jahren in London eines Tages hier nicht mehr gewollt werde und man sie aus dem Land werfen könne. Dabei hatte sie bei der Frage nach dem Brexit im Gegensatz zu den in der EU-lebenden Briten noch nicht einmal das Mitspracherecht. Um eine Einbürgerung oder britische Staatsbürgerschaft musste man sich ja wegen der Unionsverträge vorher nie kümmern.

Besessen vom Brexit

Überall in ihrer Wohnung lagen damals Akten in verschiedenen Stapeln. Vor dem Referendum wollte sie eigentlich ein Jahr Pause machen, denn sie arbeitete jahrzehntelang ohne Unterbrechung als Hebamme. Als sie sich letztes Jahr vom Ersparten diese kleine Wohnung kaufte, freute sie sich auf ein entspanntes Jahr, nicht zuletzt, weil sie auch endlich eine langwierige Trennung von ihrem Mann hinter sich hatte. Über Dinge wie das Referendum machte sie sich kaum Gedanken, und nun sei sie „brexitbesessen“. Dass die Mehrheit der Briten den Austritt aus der EU fordern würden, konnte sie sich nicht vorstellen, erst nach dem Referendum begann sie sich zu fragen, ob auch sie in Zukunft hier leben dürfe und was mit ihren Rentenansprüchen oder ihrer Gesundheitsversorgung geschehe.

„Entwürdigend und als eine Art Strafe“ empfand Elke Heckel den Einbürgerungsprozess

Nach vielen Überlegungen stellte sie einen Staatsbürgerschaftsantrag, um der Richtung der Politik vorzubeugen. Den ersten Schritt hierzu symbolisierte das Bestehen eines Bürgerschaftstests, wo sie in einem Multiple-Choice-Verfahren allerlei Fragen über das Leben und die Geschichte Großbritanniens beantworten musste, als ob 30 Jahre aktives Leben in London und Hunderte von Babys, denen sie auf die Welt half, nicht reichten. Elke bestand den Test. Der Staatsbürgerschaftsantrag war eine andere Sache.

12 Kilo Aktensalat

Sie sollte nun lückenlose Fakten, besonders über ihren Finanzhaushalt, zusammentragen, mindestens der letzten fünf bis sechs Jahre – eine Mammut­operation. Auf der Suche nach Hilfe wurde sie Mitglied einer Facebook-Hilfsgruppe und bezahlte obendrauf einen Rechtsanwalt, um herauszufinden, was sie für eine erfolgreiche Bewerbung alles benötigte. Manche hätten da 12 Kilo Aktensalat an die Behörden geschickt, erfuhr sie. Um nicht ihren deutschen Pass einsenden zu müssen und dann nicht reisen zu können, wollte sie zusätzlich einen deutschen Personalausweis beantragen. Für den ersten freien Termin in der Londoner Botschaft musste sie ganze zwei Monate warten, auch dort herrscht seit dem Referendum hoher Andrang. Dann musste ihre Steuerberaterin Erklärungen der letzten Jahre zusammenkratzen. Von der Bank wurden Kontoauszüge der letzten sechs Jahre angefordert. Dazu kam die Notwendigkeit von Beweisen, dass sie in der Zeit hier lebte. Elke schrieb einstige Kundinnen für Zeugnisse an. „Entwürdigend und als eine Art Strafe“ empfand sie das, trotz der glücklichen Mütter, die das gern taten.

An einem Freitag, es war der 12. Mai 2017, ein Datum, dass sie nie vergessen wird, stand Elke dann endlich zufrieden mit einem vollen dicken und riesigen Briefumschlag am Postschalter des Stoke Newington Postamts. An ihrem Mantel war ein Button angebracht. „Ich bin kein Faustpfand“ stand da auf EU-blauem Hintergrund. „Ich bin mir immer noch nicht sicher, ob alles richtig ist, aber ich schicke es jetzt ab“, sagte sie und fischte ihren in der Woche zuvor angekommenen deutschen Personalausweis aus dem Umschlag. Den Großteil ihrer Anmeldung erledigte sie über das Internet, auch das Ankreuzen der Erklärung, dass sie keine Terroristin sei. Für 65 Pfund Anmeldegebühr musste dieser Umschlag nun samt dem Beweismaterial innerhalb von zehn Tagen an die Einbürgerungsbehörde.

Was ist mit der ganzen Mühe?

Die Gesamtkosten des Staatsbürgerschaftsantrag betrugen inzwischen 500 Pfund, und sollte ihr Antrag bewilligt werden, darf sie noch mal weitere 1.200 für die Ehre hinblättern. 2.044 Gramm Papier hatte sie da zusammengeklaubt. Als der Postangestellten auffiel, dass die Adresse der Einbürgerungsbehörde gar nicht im Postcomputer steht, fiel Elke beim Zahlen gleich die Kreditkarte auf den Boden. Vorsichtig und aufgeregt machte sie den Umschlag wieder auf und prüfte die Adresse. Alles richtig! Der zur Hilfe geeilte Manager des Postamts entdeckte die Adresse stattdessen als die des Britischen Grenzschutzes aufgelistet, eines völlig anderen Amts. Mit einem kleinen Vermerk, dass es nicht an den Grenzschutz soll, sondern an die Stelle für Einbürgerung, wurde der Umschlag dann doch noch abgesendet. Elke vergaß fast ihre Quittung, den notwendigen Absendungsbeweis, beim Gehen. Kommt sie dann auch an, die ganze Mühe?

Im Café neben der Post kamen die ersten Nachgedanken. Nicht nur die Prozedur, sondern die Rufe vieler Briten nach weniger EU-Migranten ohne Ausbildung gingen unter die Haut, findet sie. Damals, vor 30 Jahren, als sie hier nach London gezogen war, hatte sie auch keine Ausbildung. Sie studierte hier frei durch einen Fonds des britischen nationalen Gesundheitssystems. Heute müssen Hebammen das Studium selbst zahlen. Mit dem Studium fertig, gab es in ihren ersten Hebammenteams nur eine einzige Britin. Alle anderen stammten aus Europa, Uganda, Neuseeland, Malaysia. Auch heute gibt es nicht genügend Hebammen im Land.

Sechs Monate sollte sie bis zur Entscheidung warten, manchmal dauere es sogar länger, heißt es bei der Einbürgerungsbehörde. Diese war mit 35 Prozent mehr Anträgen so überfordert, dass die Regierung im April EU-Bürger dazu aufforderte, keine Einbürgerungsanträge mehr einzureichen, sondern die Entwicklungen und Verhandlungen der nächsten Monaten abzuwarten. Elke schickte ihren Antrag dennoch ab.

Fünf Wochen später zumindest eine E-Mail. Trotz des Adressenwirrwarrs sind die Unterlagen angekommen. Doch die Ungewissheit zermürbt. Auf der Facebook-Seite für EU-Bürger suchte sie nach Antworten. Dort wusste man bereits, dass 30 Prozent der Anträge abgelehnt werden. Um auf andere Gedanken zu kommen, beschloss sie dann in den Urlaub nach Sizilien zu fliegen.

Viele Fragen bleiben

Am vergangenen Wochenende wartete Elke immer noch auf eine Antwort. Es war Sonntagmittag. Gerade hatte sie auf dem wöchentlichen Landmarkt in Stoke Newington Einkäufe gemacht. Statt ihrem Mantel mit dem EU-Button trug sie eine pinke Tunika, einen großen Strohhut und weiße Blümchensandalen mit rot lackierten Fußnägeln. Seitdem sie ihren Antrag weggeschickt hatte, wurde Theresa Mays Stellung bei den Wahlen abgeschwächt.

Vor zwei Wochen machte die Premierministerin ihr erstes lang erwartetes Angebot in Fragen der EU-Bürgerschaft. EU-Bürger sollen nach einem kleinen Antrag Aufenthaltsrecht und volle Garantien in der sozialen und gesundheitlichen Versorgung erhalten, die gleichen wie Briten. „Es klang besser, als ich dachte“, meinte Elke. Es sei gut, dass EU-Bürger ohne Staatsangehörigkeitsanträge auch hierbleiben könnten. Dennoch bleiben Fragen. „Was passiert, wenn ich mit meinem neuen Partner für ein paar Jahre nach Deutschland ziehen möchte? Und was bedeutet es eigentlich, Deutsche zu sein, und wie stehe ich zur Queen?“

Elke glaubt, dass Deutschland sicherer und demokratischer vor Manipulationen wie dem Brexit sei. Ja, seitdem das alles begonnen hätte, fühle sie sich eigentlich zunehmend deutsch. Aber nicht ganz. „Das Deutschland, in dem ich aufwuchs, das war eine kleine, geschlossene, homogene, ländliche Gemeinschaft. Nun lebe ich in der Menschenvielfalt Hackneys, wo Menschen aller Hintergründe miteinander leben. Ich gebe ja die deutsche Staatsbürgerschaft nicht auf, sondern werde eine doppelte Staatsbürgerschaft haben, wenn alles gut geht.“

Und doch werden sich Dinge mit dem Austritt aus der EU ändern, so wie etwa die steigende Fremdenfeindlichkeit. „Und wem gegenüber öffnet sich Großbritannien jetzt, Trump, Modi, Putin? Ich glaube, der Knoten in meinem Bauch wird bleiben, es sei denn, die Briten lassen vielleicht vom Brexit ab.“ Die Briten! Bald mag sie selbst eine sein, samt ihrem unverwechselbaren deutschen Akzent. Angeblich wird nach der Einbürgerung und dem Schwur, der Königin treu zu bleiben, im Rathaus symbolisch englischer Tee mit Kuchen angeboten. Sie hätte all das nicht gebraucht.

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