Schwierige Versorgungslage in Venezuela: Im Land der vergangenen Hoffnung

Tausende müssen sich in Kolumbien mit den Dingen versorgen, die zu Hause nicht zu haben sind. Hilfe im Land kriegen nur Anhänger Maduros.

Kinder essen an einem langen Tisch

Armenspeisung im Viertel La Vega in Caracas Foto: reuters

CARACAS/CúCUTA taz | Blutkonserven? Sind gerade keine da. Medikamente für die Chemotherapie? Sieht schlecht aus. Egal, wo Gabriel Romero nachfragt, es mangelt an allem. „Gestern gab es nicht einmal sterile Handschuhe“, sagt der Onkologe, während er von einer Krankenstation zur nächsten läuft. „Wie soll ich da operieren?“ Dennoch gibt er nicht auf. Was sollte er den vielen Männern und Frauen sagen, die in den langen Krankenhausfluren sitzen und hoffen, dass er sie heilt. Etwa: „Sorry, die Regierung gibt das Geld für wichtigere Dinge aus, zum Beispiel für Waffen, schusssichere Westen, Kugeln?“

Romero und seinen Kollegen der Krebsklinik Luis Razetti in Caracas bleibt nichts anderes übrig, als von einem Tag zum nächsten zu improvisieren. Hunderte von Patientinnen und Patienten kommen täglich in das Hospital, das auf einem der vielen Hügel liegt, die Venezuelas Hauptstadt umsäumen. Das Krankenhaus ist eine von zwei Kliniken, die sich in der Stadt der lebensgefährdenden Krankheit widmen – einer Krankheit, die mit guter Medizin und moderner Technologie häufig geheilt werden kann.

Was aber, wenn Technik und Arznei aufgrund von Geldmangel fehlen? „Wer es sich leisten kann, fährt nach Kolumbien, um Medikamente zu kaufen oder sich gleich dort behandeln zu lassen“, erklärt Diana Reida. Und wer das nicht kann? „Der muss sterben.“ Die junge Ärztin steht auf, stützt sich auf den Tisch, spricht lauter, aufgeregter und wird immer ungehaltener. Erst gestern habe ihr ein Patient erzählt, er werde sein Haus verkaufen, um über die Grenze fahren und die nötigen Medikamente kaufen zu können. Es gehe um 506 Pillen, die ihm das Leben retten können. „Ich lebe in einem Land mit den besten Onkologen“, sagt Reida verzweifelt. „Ich bin stolz auf Venezuela, aber es schmerzt alles so.“

Cúcuta, Kolumbien. Tausende überqueren hier die Simón-Bolivar-Brücke, um vom Südwesten Venezuelas in das Nachbarland zu gelangen. Viele kommen, um Arznei zu erwerben oder einen Arzt aufzusuchen. Allein das Universitätskrankenhaus hat in der ersten Hälfte dieses Jahres 2.700 Venezolaner aufgenommen. Doch wer kann, haut besser gleich ganz ab. Viele spielen mit diesem Gedanken, noch mehr berichten von Freunden, die sich bereits auf den Weg gemacht haben. 27.000 beantragten im vergangenen Jahr in Kolumbien Asyl, dieses Jahr sind es jetzt schon 50.000.

Viele Menschen mit verschiedenen Gepäckstücken auf einer Straße

Bepackte Venezolaner im kolumbianischen Cúcuta Foto: dpa

Hunderte Meter lang ist die Schlange der Auswanderer an der Brücke nach Kolumbien. Ganze Familien sitzen im Schatten, während sich Vater oder Mutter Meter für Meter in der Hitze vorankämpfen, um an den begehrten Stempel zu kommen. Junge Männer bieten Bustickets nach Bogotá, Peru und Chile an, unzählige Wechselstuben konkurrieren um den günstigsten Preis für die wertlosen Bolivares, Anwohner schaffen Waren auf die andere Seite der Grenze.

An der Regierung von Nicolás Maduro lässt hier niemand auch nur ein gutes Haar. Wie überall im Land erntet man vor allem Spott, wenn man nach der Bolivarischen Revolution fragt, mit der Hugo Chávez, der Amtsvorgänger des heutigen Präsidenten, einst Weltgeschichte schrieb. Bei der Frage, ob sich tatsächlich über acht Millionen Menschen an der Wahl zur Verfassunggebenden Versammlung beteiligt hätten, mit der die regierenden Sozialisten derzeit demokratische Regeln außer Kraft setzen, antwortet einer in der Schlange: „Wieso sollte diese Regierung ausgerechnet jetzt mehr Zustimmung erhalten als zu den besten Zeiten von Chávez?“

Tatsächlich liegen Welten zwischen der Aufbruchstimmung der 2000er Jahre, in denen der damalige Präsident Milliarden an Petrodollars in Nahrungs- und Gesundheitsprojekte investierte, und dem politischen und sozialen Zusammenbruch, den das Land derzeit erlebt. Wer heute einigermaßen zufrieden stellend leben will, gehört entweder zum korrupten Apparat der Regierung oder kann deren Beamte, Soldaten und Polizisten schmieren. Vor allem die arme Bevölkerung, denen die Sozialisten Essen und Krankenversorgung versprochen hatten, leidet unter diesen Verhältnissen.

Keine Medizin für die Armen

Und die staatlichen Sozialprogramme? Pfarrer Alfredo Infante zuckt mit den Schultern und zeigt auf das kleine beige Haus, in dem die Hilfsprojekte der Regierung koordiniert wurden. „Da passiert nichts mehr“, sagt er. Auch die Ärzte, die im Rahmen revolutionärer Kooperation aus Kuba hierhergekommen waren, seien nicht mehr zu sehen. „Viele haben die Gelegenheit genutzt und sind in andere Länder geflüchtet.“

Im Armenviertel La Vega am Rande von Caracas wird man unter diesen Umständen besser nicht krank. Der Jesuitenpfarrer arbeitet hier in einem Großprojekt der katholischen Kirche. 1.200 Kinder gehen in den Gebäuden seiner Kirchengemeinde San Albert Hurtado zur Schule. Die älteren lernen, die jüngeren spielen, singen und tanzen. Die Kirche bietet ihnen ein Mittagsmahl. „Für manche der Kleinen ist es das Einzige, was sie zu essen bekommen. Zu Hause bei ihnen fehlt es an allem“, erklärt Infante.

Statt dem „ewigen Revolutionär Chávez“ zu huldigen, richten sich viele Graffiti gegen den „Mörder Maduro“

Wie in allen armen Stadtbezirken hatten auch hier einst die Chavisten die Oberhand. Doch damit ist es längst vorbei. Nicht mehr Wandmalereien, die den „ewigen Revolutionär Hugo Chávez“ huldigen, dominieren an den Mauern des Viertels. Stattdessen richten sich viele Graffiti gegen den „Mörder Maduro“ und dessen bolivarische Bewegung. „Es ist traurig, dass hier Venezolaner gegen Venezolaner kämpfen“, sagt eine Frau, die mit dem Pfarrer arbeitet, aber Angst hat, ihren Namen zu nennen. Immer wieder käme es zu gewaltsamen Auseinandersetzungen. „Und wer nicht die Regierungstreuen unterstützt, erhält keine der Essenstüten von Clap.“

Über das staatlichen Ernährungsprogramm Clap bekommen Bürgerinnen und Bürger Venezuelas einmal im Monat ein Paket mit den nötigsten Lebensmitteln wie Bohnen, Maismehl, Reis zu subventionierten Preisen – vorausgesetzt, sie fallen nicht unangenehm auf, etwa weil sie sich nicht an den umstrittenen Wahlen zur Verfassunggebenden Versammlung beteiligen. Für Jesuit Infante hat das Programm deshalb vor allem das Ziel, soziale Kontrolle auszuüben. „Die Sozialmaßnahmen, für die Chávez auf der ganzen Welt gelobt wurde, haben ihren ursprünglichen Sinn verloren“, erklärt er. „Heute sind sie nur noch Waffen in den Händen der Mächtigen.“

Infante, der sich sein Leben lang in linken Kreisen bewegte, spricht der Regierung jeden sozialistischen Ansatz ab. Er spricht von einer Mafia, der jedes Mittel recht sei, um an der Macht zu bleiben. So auch die Einrichtung der Verfassunggebenden Versammlung, die das legal gewählte Parlament entmachtet, alle staatliche Gewalt an sich gerissen und Kritikerinnen wie die Staatsanwältin Lui­sa Ortega kriminalisiert hat. Höchstens 200 Menschen hätten sich in ihrem Wahlkreis in La Vega an der Wahl für diese Versammlung beteiligt, ist Infantes Mitarbeiterin überzeugt. „Wenn überhaupt.“

Tatsächlich fällt es in diesen Tagen schwer, jemanden außerhalb des politischen Apparats zu finden, der aus freien Stücken Maduros Politik verteidigt. Am ehesten sieht man sie in regierungsnahen Fernsehsendern wie Telesur oder Venezolana de Televisión. Glückliche Frauen und Männer erklären dort ihre Bereitschaft, das Vaterland gegen das Imperium zu schützen. Denn seit US-Präsident Donald Trump erklärte, gegebenenfalls militärisch in Venezuela intervenieren zu wollen, kennt man dort fast nur noch dieses Thema – untermalt mit antiimperialistischer Folklore aus den kubanischen Siebzigern und alten Videos, in denen Comandante Chávez klarstellt, dass sich das Volk nie ergeben werde.

Kaum ein Wort dagegen über eine Gesellschaft, in der das öffentliche Leben kollabiert, in der Kriminelle und korrupte Beamten die Bevölkerung terrorisieren und viele nicht mehr wissen, wovon sie leben sollen, weil täglich die Inflation die Preise immer weiter in die Höhe treibt. Die Opposition sei am schlechten Bild ihres Landes schuld, erklärte die ehemalige Außenministerin und jetzige Sprecherin der Verfassunggebenden Versammlung, Delcy Rodríguez. „Hier gibt es keine humanitäre Krise“, sagte sie – um dann von der Liebe zu sprechen, die das Land zusammenhalte.

Jesuitenpfarrer Infante wird zynisch, wenn er über diese inszenierte Welt nachdenkt, die nichts mit dem wirklichen Leben der meisten seiner Landsleute zu tun habe. „Telesur hat gute Arbeit geleistet“, versucht er sich zu erklären, warum es immer noch Linke in Lateinamerika gibt, die das Regime verteidigen. Dann läuft er weiter, vom Speisesaal der Schule zu einem Treffpunkt von Jugendlichen, mit denen er arbeitet. Gerade mit Blick auf die jungen Menschen, Chavisten und deren Kritiker, ist für ihn klar: „Damit dieses Land weiterlebt, brauchen wir Versöhnung.“ Doch auf politischer Ebene ist diese überhaupt nicht in Sicht. Rücksichtslos baut Maduros Verfassunggebende Versammlung ihre Macht aus, während sich deren konservative und wirtschaftsliberale Gegner über den richtigen Weg streiten, um die Chavisten zu Fall zu bringen.

Die Tageszeitung El Nacional meldete am Dienstag, dass von den insgesamt 27 Bestrahlungsgeräten zur Krebsbekämpfung in Venezuela nur noch 3 in Betrieb seien, weil die Regierung die nötigen 16 Millionen US-Dollar für die Reparaturen nicht mehr aufbringen könne. Auch die Apparate in der Klinik Luiz Razetti stehen still. „Wie kann es sein, dass im Land mit den größten Erdölvorkommen der Welt Menschen sterben, weil ihre medizinische Versorgung nicht gewährleistet ist“, fragt Onkologe Romero. Die Hoffnung, dass diese Regierung dieses Problem löst, hat er längst aufgegeben.

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