Alter Paragraf, deprimierendes Urteil

Im Prozess um „Werbung“ für Abtreibungen ist die Ärztin Kristina Hänel schuldig gesprochen worden. Sie soll 6.000 Euro Geldstrafe zahlen. Die Ärztin will in Berufung gehen. Unterstüzer*innen fordern Gesetzesänderung

Noch gut gelaunt: Kristina Hänel applaudiert Demonstrant*innen vor dem Prozessbeginn Foto: dpa

Aus Gießen Dinah Riese

Im Saal des Amtsgerichts Gießen ist es voll. Die 71 Plätze reichen nicht aus für die Menschen, die an diesem Freitag zur Unterstützung von Kristina Hänel erschienen sind. Die Ärztin steht vor Gericht, weil sie auf ihrer Webseite über Schwangerschaftsabbrüche in ihrer Praxis informiert. Laut Paragraf 219a Strafgesetzbuch ist das „Werben“ für Schwangerschaftsabbrüche eine Straftat.

Aktuell kann der Paragraf so ausgelegt werden, dass auch sachliche Information wie auf der Webseite Hänels als „Werbung“ ausgelegt werden kann. Das ist umstritten. „Ich beantrage die Vorlage beim Bundesverfassungsgericht“, sagt Hä­nels Verteidigerin Monika Frommel zu Beginn der Verhandlung. Von draußen tönt lautes Rufen herein: „My body my choice“ – auf gleich zwei Kundgebungen haben Menschen seit dem frühen Morgen die Abschaffung des Paragrafen 219a gefordert.

Ob der Hinweis auf der Webseite noch existiere, will die Richterin wissen. „Es gibt keinen Grund, daran etwas zu ändern“, antwortet Frommel. Hänel selbst will sich vor Gericht nicht äußern. Der Hinweis sei mit einem Link unterlegt, nur ein Klick auf diesen führe zu einem Dokument mit Informationen über Abbrüche allgemein, über Methoden und Risiken und über die Möglichkeit, den Abbruch in der Praxis Hänels vorzunehmen.

„Es handelt sich also um eine Information über eine Information, und die ist nicht strafbar“, sagt Frommel. „Es handelt sich nicht um eine appellative Äußerung im Ton eines ‚Kommen Sie zu mir, Verhütung ist viel zu anstrengend‘.“ Die Handlung des Anbietens erfülle keineswegs den Straftatbestand des Werbens. Der Paragraf stamme aus dem Jahr 1933, führt Frommel weiter aus. Er sei eingeführt worden, um jüdische und kommunistische Ärzte zu kriminalisieren. „Der Paragraf 219a ist ein Relikt aus der Nazizeit, das von der Reformgesetzgebung versehentlich mitgeschleppt wurde“, sagt Frommel. Er passe nicht zur Gesetzesreform von 1995, wonach Schwangerschaftsabbrüche in Deutschland verboten, aber unter bestimmten Bedingungen straffrei seien.

„Wir haben uns jetzt angehört, warum Sie meinen, dass der Paragraf nicht verfassungskonform ist“, sagt die Richterin. „Nun müssen wir aber ja erst mal feststellen: Er existiert.“ Und auch der Staatsanwalt betont: „Die Diskussion, die wir hier führen, ist eine rein rechtliche.“ Warum Hänel die Information auf ihrer Webseite eingestellt habe, fragt der Staatsanwalt. „Weil Patientinnen das Recht auf Information haben“, sagt Frommel.

Am Ende fordert der Staatsanwalt eine Strafe von 40 Tagessätzen à 150 Euro. „Die Verteidigung würde gern eine Gesetzesänderung herbeiführen“, sagt er. „Dabei wird aber die aktuelle Rechtslage verkannt. Für die Gesetzgebung ist die Legislative zuständig. Die gesetzliche Norm hat hier Anwendung zu finden – wenn nicht, wäre das Rechtsbeugung.“

Das Gericht folgt dem Antrag der Staatsanwaltschaft. Hänel muss nicht nur 6.000 Euro Strafe zahlen, sie trägt auch die Kosten des Verfahrens. Der Gesetzgeber habe sich klar ausgedrückt, sagt die Richterin: „Er wünscht nicht, dass Schwangerschaftsabbrüche öffentlich diskutiert werden, als wären sie etwas Alltägliches.“

Nach der Verhandlung drängen sich Journalist*innen um Verteidigerin. Sie habe eigentlich eine hohe Meinung von deutschen Gerichten, sagt Frommel: „Aber ich erwarte, dass eine Richterin weiß, dass das Auslegen von Gesetzen Teil ihres Berufs ist.“ Sie und Hänel werden in Revision gehen – der Fall läge dann als Nächstes beim Oberlandesgericht.

„Heute ist eine Chance verpasst worden“, sagt Ulrike Lemb­ke vom Deutschen Juristinnenbund. Das Gericht habe mehrfach erkennen lassen, dass eine Vorlage beim Bundesverfassungsgericht möglich sei. Die dafür entscheidenden Punkte seien vor Gericht nicht angesprochen worden, bedauert Lembke.

„Ein Schlag in die Magengrube für alle, die ihre Solidarität mit Kristina Hänel bekunden“

Ulle Schauws, Grüne

Mit der Presse will Kristina Hänel nicht mehr sprechen. Aber sie wird weitermachen. Und eines hat sie schon heute geschafft: eine breite gesellschaftliche wie politische Debatte anzustoßen. 400 Un­ter­stüt­zer*innen hatten sie am Morgen vor dem Gericht empfangen.

„Dieses Urteil ist ein Schlag in die Magengrube für alle, die heute hier sind, um ihre Solidarität mit Kristina Hänel zu bekunden“, sagt Ulle Schauws, Bundestagsabgeordnete der Grünen. „Aber nun ist umso mehr klar: Die Politik muss hier für gesetzliche Klarheit sorgen.“

„Sehr deprimierend“, nennt auch Nora Szasz das Urteil. Die Frauenärztin aus Kassel ist derzeit selbst mit einer Anklage konfrontiert. Die Staatsanwaltschaft habe vorgeschlagen, den Hinweis von der Webseite zu nehmen; Szasz will dem nicht zustimmen. „Aus dem heutigen Tag habe ich gelernt, dass da strafrechtlich wenig rauszuholen ist“, sagt sie. „Wir müssen uns dem politisch oder verfassungsrechtlich annehmen.“

(Az: 500DS 501JS 15031/15)